"Nach dem 25. Lebensjahr geht es bergab"

Wie Sie Ihre Gedächtnisleistung innerhalb weniger Wochen verbessern können

Neurowissenschaftlerin Isabella Wagner über Erinnerungen und das Festhalten schöner Momente.

von Gehirn - "Nach dem 25. Lebensjahr geht es bergab" © Bild: iStockphoto.com
Die kognitive Neurowissenschaftlerin forscht zum Thema Gedächtnis. Zunächst studierte Isabella Wagner Psychologie an der Universität Graz, anschließend promovierte sie im Fach Medizinwissenschaften an der Radboud-Universität in den Niederlanden. Ab September startet Wagner als Assistenzprofessorin und Forschungsgruppenleiterin zum Thema "Cognition-Brain-Microbiome Interactions" an der Universität Wien.
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In Österreichs Politik fällt in letzter Zeit häufig der Satz: Ich kann mich nicht erinnern. Ist das ein Zeichen für ein schlechtes Gedächtnis?
Das ist noch kein Zeichen für ein schlechtes Gedächtnis. Das ist etwas, das uns allen passieren kann. Wenn viel los ist, viele Dinge gleichzeitig stattfinden und wir uns nicht auf etwas Einzelnes konzentrieren können, dann ist es möglich, dass das unsere Aufmerksamkeitsspanne übersteigt und man sich nicht so gut erinnern kann.

Aber was, wenn diese Erinnerungslücken gehäuft auftreten?
Dann wäre es problematisch. Es kann jeder gesunden Person passieren, Dinge zu vergessen. Das heißt nicht sofort, dass ein pathologischer Status vorliegt. Aber wenn es über die im Alter normale Abnahme der Gedächtnisleistung hinausgeht, könnte es sich zum Beispiel um Anzeichen von Demenz handeln.

Wann sollte man zum Arzt gehen?
Wenn der Alltag beeinträchtigt wird und man subjektiv anfängt, sich Gedanken zu machen, ob etwas los ist. Ein Indiz kann auch sein, dass andere Leute mich darauf ansprechen. Aber ganz allgemein ist es sicher nicht schlecht, ab einem gewissen Alter in Abständen beim Neurologen vorbei zu schauen.

»Bewegung ist für unser Gedächtnis ganz wichtig«

Damit der Neurologe feststellen kann, in welchem Zustand das Gedächtnis ist ...
Ja. Der Neurologe kann unterschiedliche Verhaltenstests machen. Wenn der Verdacht auf Demenz oder Gehirnschädigung besteht, beispielsweise durch einen Unfall, dann kann der Neurologe einen MRT-Scan anordnen, um die Gehirnstruktur zu untersuchen.

Ab welchem Alter nimmt unsere Gedächtnisleistung ab?
Streng genommen ist das Gehirn mit einem Alter von 25 Jahren biologisch am höchstentwickelten Punkt. Danach geht es theoretisch nur mehr bergab -bei manchen weniger steil, bei anderen steiler. In welchem Alter wir beginnen, Dinge zu vergessen, ist aber ganz unterschiedlich. Das hängt von genetischen Vorgaben ab, aber auch davon, wie aktiv eine Person ist. Und das umfasst nicht nur mentale Aktivität wie das Lesen von Büchern oder sich für neue Dinge zu interessieren, sondern es umfasst auch Sport. Bewegung ist für unser Gedächtnis ganz, ganz wichtig. Pauschal gesprochen kann es ab dem 65. Lebensjahr sein, dass man Dinge vergisst. Dies ist aber noch nicht pathologisch, sondern es ist ganz normal, dass nach einem langen Leben die Kapazität etwas abnimmt. Neben mentaler und physischer Aktivität ist noch das Vermeiden von zu viel Stress förderlich für unsere Gedächtnisleistung. Bei Menschen mit chronischem Stress konnte in Studien sogar gezeigt werden, dass sich die Struktur des Hippocampus, also jenes Bereichs unseres Gehirns, der für das Gedächtnis entscheidend ist, verkleinert.

Aber wovon hängt es eigentlich ab, ob ich mich später an ein Ereignis erinnern kann oder nicht mehr?
Das hängt von ganz vielen verschiedenen Aspekten ab. Grundsätzlich kann man sich an Dinge, die - egal, ob positiv oder negativ -emotional behaftet sind, sehr gut erinnern. An die erste Liebe erinnert man sich zum Beispiel wahrscheinlich sein ganzes Leben lang, aber auch an traumatische Ereignisse wie einen Autounfall. Unabhängig von Emotionen kann man sich an Dinge, die man oft und sorgfältig eingelernt hat, sehr gut erinnern.

Gibt es eigentlich unterschiedliche Erinnerungstypen?
Es gibt unterschiedliche Lerntypen. Manche stellen sich Sachen eher bildlich vor, andere vielleicht weniger. So fehlt Menschen mit Aphantasie das bildliche Vorstellungsvermögen. Sie haben eine andere Erinnerungsqualität.

© Getty Images Ab welchem Alter wir Dinge vergessen, ist ganz unterschiedlich. Sport hilft, diese Grenze nach hinten zu verschieben

Kann meine Erinnerung auch falsch sein, obwohl ich mir fix einbilde, dass es genau so war?
Ja, das kann sehr gut sein. Das zeigen einige Forschungsarbeiten, zum Beispiel jene der Amerikanerin Elizabeth Loftus. Da haben Wissenschaftler versucht, falsche Erinnerungen in Personen zu implantieren. Das hat ganz gut funktioniert. Deswegen sind bei Gericht auch Suggestivfragen verboten. Denn Erinnerungen sind teilweise fragil und lassen sich verändern. Wenn jemand anderer ganz überzeugt sagt, Nein, es war ganz sicher so, kann es sein, dass wir diese Variante speichern und uns künftig daran erinnern.

Wie kann das funktionieren?
Es wird angenommen, dass jedes Mal, wenn wir über einen Gedächtnisinhalt nachdenken, dieser abgerufen wird und sich dann in einem labilen Zustand befindet. Dinge, die zu diesem Zeitpunkt neu und gleichzeitig damit verarbeitet werden, können das Gedächtnis verändern und dann verändert abgespeichert werden.

Wie lange kann man sich eigentlich zurückerinnern? Es gibt Menschen, die behaupten sich an Ereignisse erinnern zu können, als sie noch Babys waren ...
Wir sprechen von infantiler Amnesie. Das hängt damit zusammen, dass sich der Hippocampus, der fürs Erinnern sehr wichtig ist, erst entwickeln muss. Ab dem 2. bis 4. Lebensjahr ist diese Gehirnstruktur schon gut entwickelt. Ab diesem Zeitpunkt hat man auch erste Erinnerungen.

Kann es sein, dass man Ereignisse verdrängt und sich an etwas gar nicht mehr erinnern kann?
Generell ist das ein Ziel, das wir in den kognitiven Neurowissenschaften haben. Wir versuchen, dass traumatische Ereignisse, die jemanden stark belasten und als Flashbacks immer wieder zurückkommen, ausgeblendet werden können. Ob man sie wirklich vergessen kann? Es gibt ein paar Studien, die das versucht haben. Etwa mit Elektroschocktherapie wurde gezeigt, dass bestimmte Aspekte dieses Gedächtnisinhalts vergessen werden. Eine andere Methode, die in der Therapie angewandt wird, heißt EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Dabei geht es darum, emotionale Konnotation der Gedächtnisinhalte abzuschwächen. Traumatische Erinnerungen sind dann nicht mehr so impulsiv und nicht mehr so belastend, können aber immer noch erinnert werden.

»Möglichst absurde Assoziationen helfen beim Erinnern«

Kann ich das Erinnern trainieren?
Ja, das kann jeder. Dazu haben wir eine Studie veröffentlicht. Eine Möglichkeit wäre etwa die Methode der Orte. Das haben Probandinnen und Probanden sechs Wochen lang trainiert und konnten ihr Gedächtnis damit deutlich verbessern. Ihre Leistung war nach dieser Zeit mit jener von Gedächtnissportlern, die unter den top 50 der Weltrangliste sind, vergleichbar. Auch von der Gehirnaktivität hat sich kein Unterschied mehr zu den Gedächtnissportlern gezeigt.

Kann ich das selbst zu Hause üben?
Das kann man ganz einfach üben, indem man klein anfängt. Das wäre z. B., sich die Einkaufsliste einzuprägen. Das funktioniert so, dass man sich einen Weg oder Ort vorstellt, den man sehr gut kennt. Also z. B. den Weg durch die eigene Wohnung oder von zu Hause in die Arbeit. Dann stellt man sich vor, diesen entlangzugehen und Items der Einkaufsliste an bestimmten Punkten am Weg abzulegen. Will man sich später daran erinnern, geht man mental diesen Weg nach und hebt die Items von dort auf, wo man sie zuvor abgelegt hat. Was gut hilft und wo man schnell Erfolge sehen kann, ist, wenn man sich ganz lustige und seltsame Assoziationen zu den Punkten vorstellt, an denen man Einkaufslisten-Items mental ablegt. Je seltsamer, lustiger oder absurder Informationen sind, desto besser werden wir uns an sie erinnern.

Lernt man in der Schule leichter, wenn man Informationen mit absurden Bildern verknüpft?
Ja, genau. Das ist eine beliebte Technik, die Gedächtnissportler anwenden. Also Assoziationen, die möglichst absurd sind. Da kommt es dann zu Dopamin- und Noradrenalin-Ausschüttung im Gehirn. Diese beiden Botenstoffe sind für das Langzeitgedächtnis wichtig. So lässt sich biologisch erklären, warum sich lustige und seltsame Dinge besser abspeichern.

Manchmal erlebt man besonders schöne Momente und möchte diese für den Rest seines Lebens in Erinnerung behalten. Gibt es einen Trick, wie man den Moment einfangen kann?
Dabei ständig Selfies zu machen, ist weniger gut. Ich schlage vor, das Handy wegzulegen, zu versuchen, den Moment mit allen Sinnen zu genießen und dabei auf Details zu achten. Das ist wohl die beste Möglichkeit, diesen Moment für lange Zeit festzuhalten.

Dieses Interview erschien ursprünglich im News 28+29/2021.