Spitzentöne
Ein Kniefall vor
Christa Ludwig
Welch eine Generation: hellwach, einflussreich, meinungsbildend. Die Neunzigjährigen setzen Maßstäbe
Welch eine Generation: hellwach, einflussreich, meinungsbildend, den Blick über Jahrzehnte richtend und daher souverän im Urteil, wo andere im Tagesgetöse die Orientierung verloren haben. Die Neunzigjährigen setzen Maßstäbe: Hugo Portisch und Gustav Peichl erhellen mit ihren Wortmeldungen; die Routine des trägen Gezänks tritt außer Kraft, wenn Lotte Tobisch (bei "Markus Lanz") und Arik Brauer ("Im Zentrum") die Summe ihres Wissens gegen Korrektheitsnormen setzen. Nun ist einer weiteren Neunzigjährigen zum Wiegenfest zu gratulieren: Wer - wie ich über Jahrzehnte - die Mezzosopranistin Christa Ludwig auf der Opernbühne und dem Konzertpodium erleben durfte, hat Maßstäbe für sein Leben mitbekommen. Als Zwölfjähriger habe ich mit klopfendem Herzen erstmals ihre Ortrud im "Lohengrin" gehört. Heidnische Urgewalten wurden da freigesetzt, und das unter Einsatz einer Stimme, die an Sinnlichkeit nicht ihresgleichen hatte. Derzeit wird im Theater an der Wien Gottfried von Einems famose Dürrenmatt-Oper "Der Besuch der alten Dame" gezeigt. Kein Berichterstatter - auch nicht diejenigen, die Christa Ludwig nur von Tondokumenten kennen - kam da um die von ihr bestrittene Uraufführung des Werks herum. Sie war die Mahler-Stimme eines Jahrhunderts, und jede ihrer Wortmeldungen macht die Musikwelt klüger. Ich gratuliere umstandslos per Kniefall.