Dominique Meyer: "Jeder weiß,
dass ich gern geblieben wäre"

Die letzte Amtshandlung seiner Direktion an der Wiener Staatsoper und die erste an seinem neuen Haus, der Mailänder Scala, waren für Dominique Meyer gleichermaßen schmerzlich: Beide Häuser musste er Pandemie-bedingt schließen.

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Wiener Staatsoper - Dominique Meyer: "Jeder weiß,
dass ich gern geblieben wäre"

Als in Wien der Spielbetrieb wieder aufgenommen werden durfte, erstellte Meyer binnen weniger Tage ein Abschiedsprogramm: Liederund Arienabende mit Weltstars wie Camilla Nylund oder Juan Diego Flórez und Auftritte seines Ensembles für je 100 Besucher - vor dem eisernen Vorhang, denn Meyer nutzt die Zeit der Sperre für Sanierungsarbeiten, damit Nachfolger Bogdan Roščić ab August den Probenbetrieb aufnehmen kann.

Wenn der letzte Ton der Galavorstellung seines Ensembles am 27. Juni verklungen ist, wird sich der 64-Jährige dann wirklich nach Mailand verabschieden. Zuvor zog er im Gespräch mit News Bilanz über die zehn Jahre seiner Direktion.

© JOE KLAMAR/AFP via Getty Images

Was überwiegt bei Ihrem Abschied von der Wiener Staatsoper: Groll, Wehmut oder Vorfreude auf die neue Aufgabe an der Mailänder Scala?
Dominique Meyer: Es ist eine Mischung von allem. Jeder weiß, dass ich gern hiergeblieben wäre, weil ich ein sehr schönes Leben in Wien hatte. Ich liebe diese Stadt, ich liebe meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ich liebe jeden Winkel in diesem Haus und unser Publikum. Da ist es natürlich schwierig, wegzugehen. Aber ich habe noch das Glück, eine weitere Oper zu leiten, eine sehr bedeutende. Und ich habe schon meine neue Mannschaft kennengelernt, die auch wunderbar ist. Ein halb mal lustig, ein halb mal traurig (Zitat aus dem "Rosenkavalier", Anm.).

Hätten Sie nicht Grund genug zum Grollen?
Nein, ich werde im Sommer 65. Ich war der jüngste Operndirektor in der Geschichte der Pariser Oper, ich habe ein Opernhaus in der Schweiz geführt und durfte elf Spielzeiten lang das wunderbare Théâtre des Champs-Élysées leiten. Jetzt darf ich noch die Mailänder Scala übernehmen. Ich bin der Letzte, der unzufrieden sein darf.

Stimmt es, dass Sie von Kulturminister Drozda aufgefordert wurden, sich noch einmal für die Staatsoper zu bewerben?
Ich habe das schon alles vergessen. Ich hatte übrigens geplant, mit Christian Thielemann als Generalmusikdirektor zu bleiben.

Was war das Schönste und was das Schlimmste, das Sie hier erlebt haben?
Das Schönste war der Alltag. Ich habe hier mehr als 3.000 Vorstellungen organisiert und weit über 2.500 erlebt. Als ich kam, erhöhte ich die Anzahl der Orchesterproben von 90 auf 110. Fast alle davon habe ich besucht. Für mich war das Repertoire genauso wichtig wie die Premieren. Ich habe auf die Besetzungen geachtet, die Ausstattungen vieler Produktionen renoviert, denn viele waren in sehr schlechtem Zustand, und manche Regisseure für die Wiederaufnahmen zurückgeholt. Die Premieren interessieren doch hauptsächlich Journalisten, weil sie da über die Regie diskutieren können.

Haben Sie schlechte Kritiken belastet?
Ich konnte damit leben. Bei einigen hatte man auch das Gefühl, dass Intrigen im Spiel waren. Aber das war eine Minderheit. Es stört mich nicht, wenn jemand eine andere Meinung hat. Aber ich mag es nicht, wenn man schreibt, etwas war gut oder schlecht. Wer kann schon behaupten, die Wahrheit in der Tasche zu haben? Auch ich liefere nur eine Variante. Wenn man die Kritik von der Wiener Erstaufführung des "Rosenkavaliers" liest, erkennt man, dass man vorsichtig sein muss, was man schreibt. Was ich aber sehr schätze, ist, dass in diesem Land noch so viel über Oper und Konzerte berichtet wird. Und wir hatten auch viel gute Presse.

Intrigen gegen Direktoren der Wiener Staatsoper sind eine Wiener Tradition. Gustav Mahler, Karl Böhm, Herbert von Karajan, Lorin Maazel gingen im Konflikt. Fühlen Sie sich als Opfer von Intrigen?
Intrigen und Intriganten hat es immer gegeben, und nicht nur in Wien! Es gibt aber in Wien einen kleinen Teil der Gesellschaft, vielleicht 50 oder 60 Personen, die sich berechtigt fühlen, alles zu entscheiden.

»Man muss schon taub oder blind sein, um das nicht zu beobachten«


Kennen Sie jeden Einzelnen?
Ja, natürlich, man muss schon taub oder blind sein, um das nicht zu beobachten. Aber man darf sich nicht beeinflussen lassen und muss seine Arbeit ruhig weitermachen. Mich hat das alles nicht so beschäftigt. Die Wiener sprechen gern darüber, aber diese Intrigen sind mehr Folklore als alles andere.

Was war das Schlimmste in den zehn Jahren Ihrer Amtszeit?
Ich hatte drei Krisen. Die erste war "die nackte Ballerina" (die Balletttänzerin Karina Sarkissova posierte für Nacktfotos in der Wiener Staatsoper, knapp bevor Dominique Meyer ans Haus kam, Anm.). Man hatte sie schon gekündigt, als ich ans Haus kam. Viele hier waren entsetzt. Ich sagte, dass mich das Foto einer halbnackten Tänzerin weniger schockiert als das eines sterbenden Kindes, das ein Fotograf zuerst ablichtet, bevor er es zu retten versucht. Ich holte diese Tänzerin in mein Büro, meine Kollegin aus der Rechtsabteilung war selbstverständlich dabei, und schlug ihr vor, fünf Zeilen als Entschuldigung zu schreiben. Ich sagte: "Meine Damen, ich mache für 20 Minuten einen Spaziergang, ich möchte die fünf Zeilen bekommen, wenn ich zurück bin." So haben wir ein Problem erledigt, das eigentlich keines war. Ich denke, man kann so etwas auch menschlich lösen. Schlimmer aber waren die Vorkommnisse an der Ballettakademie.


Der Leiterin der Ballettakademie wurde vorgeworfen, dass sie Schülerinnen gequält und gedemütigt hat. Sie wollten den Fall aufklären. Konnten Sie herausfinden, weshalb diese Missstände, die es schon länger gegeben haben muss, erst am Ende Ihrer Amtszeit an die Öffentlichkeit gekommen sind?
Das war eine Mischung aus einigen klaren Fakten und persönlichen Befindlichkeiten, und ein paar Leute haben in dieser Causa tatsächlich gelogen. Ein ehemaliger Leiter der Ballettakademie sagte in einem Fernsehinterview, dass er die Lehrerin entlassen hat, weil er durch das Schlüsselloch geschaut und dabei entdeckt hat, dass sie mit den Kindern nicht richtig umgegangen ist.

»Was mich wirklich schmerzt, ist der Abschied von meinem Ballett«

In Wahrheit wurde diese Frau erst von seinem Nachfolger gekündigt, und das auch noch aus anderen Gründen, daher können gewisse Dinge nicht stimmen. Vielleicht wird einmal ein Historiker diesen Fall aufklären. Was mich wirklich schmerzt, ist der Abschied von meinem Ballett. Ich bin froh, dass wir noch eine digitale Übertragung einer Nurejew-Gala machen konnten. Manuel Legris und ich haben das Ballett besonders gepflegt, es war eine langfristige Aufgabe, sie als Gruppe aufzubauen. Drei junge Tänzerinnen und Tänzer, die am Opernball schon in der Kindertruppe waren, sind jetzt erste Solotänzer. So etwas gibt einem das Gefühl, dass man etwas aufgebaut hat. Aber zurück zu den Krisen: Die dritte war der Rücktritt von Generalmusikdirektor Franz Welser- Möst.

Ihr Generalmusikdirektor legte mitten in der Spielzeit seinen Posten zurück. Konnten Sie ihm das vergessen
Nein, aber es passiert doch, dass man sich mit jemandem nicht so gut versteht. Das ist doch kein Drama.

Weshalb haben Sie keinen Nachfolger für seinen Posten geholt?
So etwas ist kompliziert, wir hatten schon die kommenden Spielzeiten geplant und zwischen 30 und 35 Vorstellungen pro Spielzeit, gesamt 105 Abende, mit ihm vereinbart. Und es ist natürlich schwierig, jemanden zu finden, der in die gleichen Fußstapfen treten kann, was den Kalender und die Stücke betrifft.

Aber wir hatten danach sehr gute Dirigenten am Haus: Thielemann dirigierte viel öfter als je, Simon Rattle war da, Semyon Bychkov, Zubin Mehta, Valery Gergiev. Und wir holten viele junge Dirigenten wie Yannick Nézet-Séguin, er ist heute Chefdirigent an der Metropolitan Opera in New York, Alain Altinoglu oder Tugan Sokhiev, der wurde Chef vom Bolschoi, Andris Nelsons, Daniel Harding, Axel Kober und viele andere.

Werden Sie Welser-Möst eine Produktion an der Scala anbieten?
Warum nicht, wenn er Zeit und Lust hat? Er hätte in der vergangenen Spielzeit "Ariadne auf Naxos" dirigieren sollen. Aber das hat dann leider nicht funktioniert. Ich habe nichts gegen Franz Welser-Möst. Er ist ein hervorragender Dirigent.

Sie holten den entlassenen Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann an Ihr Haus, als ihn alle anderen gemieden hatten. War das ein Akt der Solidarität gegen die Denunzianten-Gesellschaft?
Ich habe das für Hartmann und für Georg Springer (ehemaliger Geschäftsführer der Bundestheater-Holding, der im Zuge des Burgtheaterskandals entlassen wurde, Anm.) gemacht. Ich bedaure es heute noch, dass man Springer so schlecht behandelt hat. Er hat 30 Jahre für die Bundestheater sehr gut gearbeitet. Er ging, ohne dass man ihn verabschiedet hat. Vielleicht hat er Fehler gemacht, ich kenne die Details nicht, und ich will sie auch nicht kennen. Ich habe aber mit Springer gut gearbeitet. Er hat eine große Liebe zur Oper. Er kennt sich aus, das ist viel wert. Man sollte doch ein bisschen Würde behalten und nicht auf die Leute treten, die schon am Boden liegen.

Ist das ein Wiener Phänomen?
Nicht unbedingt. Ich habe mich aber von solchen Sachen nicht beeinflussen lassen. Ich habe meine Werte und werde sie weiterhin behalten. Eine andere Charakteristik der Wiener Gesellschaft hat mich aber oft beschäftigt: Man darf bedauern, dass man im Allgemeinen kein Bewusstsein dafür hat, welches Glück es ist, hier zu leben. Österreich ist ein tolles Land, Wien ist eine wunderbare, eine historische Stadt, schön, gepflegt, sicher, ohne Luftverschmutzung. Wenn ich höre, wie man sich über die Arbeitslosigkeit und über die Staatsschulden aufregt, da sollte man schauen, was in Spanien, Italien, Frankreich oder Griechenland passiert.

Sie lassen 15 Millionen Euro Rücklagen für Ihren Nachfolger zurück. Wie ist das trotz der dreimonatigen Sperre möglich?
Das ist eine komplizierte Sache. Wir verfügten bereits über gute Rücklagen, und wir hatten einen tollen Saisonbeginn mit 1,2 Millionen Euro mehr an Einnahmen, und das, ohne dass wir die Preise erhöht haben. Was uns auch sehr geholfen hat, ist die Kurzarbeit. Am Ende werden wir etwas weniger haben als prognostiziert, aber wir werden ein Plus verbuchen. Was mich gekränkt hat, war, dass man mich als "Auslastungsstreber" beschreibt. Man sollte sich doch freuen, wenn die Auslastung stimmt.

Wie ist das mit der Auslastung tatsächlich? Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Spielzeit 2015/16 gaben Sie 97,7 Prozent an, der Rechnungshof aber nur 83 Prozent. Wie kam es zu einer solchen Differenz?
Es gibt zwei Konzepte, die Auslastung zu berechnen, die physische und die wirtschaftliche. Ich spreche von der physischen, also der tatsächlichen Belegung der Plätze, da sind Dienstkarten für die Sänger, Regiekarten und Pressekarten dabei. Der Rechnungshof gibt nur an, was wirklich in die Kasse fließt. Aber unsere Einnahmen sind massiv. Allein im vergangenen Jahr verbuchten wir 37,5 Millionen Euro. Als ich angefangen habe, waren es 28 Millionen.

Wie kam es, dass die freiberuflichen Sänger und Dirigenten nach dem Lockdown keinerlei Entschädigung bekommen haben?
Am Anfang fühlte ich mich ein bisschen allein. Es gab eine Sitzung diesbezüglich, zu der ich nicht einmal eingeladen wurde. Man hat sich danach entschuldigt. Als Andrea Mayer kam, wurde das sehr schnell erledigt. Die freien Künstlerinnen und Künstler bekommen jetzt eine Entschädigung. Wir haben darauf geachtet, dass die Künstler, die weniger bezahlt bekommen, im Verhältnis zu ihren Gagen eine höhere Entschädigung bekommen als jene, die viel verdienen.

Sie holten den entlassenen Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann an Ihr Haus, als ihn alle anderen gemieden hatten. War das ein Akt der Solidarität gegen die Denunzianten-Gesellschaft?
Ich habe das für Hartmann und für Georg Springer (ehemaliger Geschäftsführer der Bundestheater-Holding, der im Zuge des Burgtheaterskandals entlassen wurde, Anm.) gemacht. Ich bedaure es heute noch, dass man Springer so schlecht behandelt hat. Er hat 30 Jahre für die Bundestheater sehr gut gearbeitet. Er ging, ohne dass man ihn verabschiedet hat. Vielleicht hat er Fehler gemacht, ich kenne die Details nicht, und ich will sie auch nicht kennen. Ich habe aber mit Springer gut gearbeitet. Er hat eine große Liebe zur Oper. Er kennt sich aus, das ist viel wert. Man sollte doch ein bisschen Würde behalten und nicht auf die Leute treten, die schon am Boden liegen.

Ist das ein Wiener Phänomen?
Nicht unbedingt. Ich habe mich aber von solchen Sachen nicht beeinflussen lassen. Ich habe meine Werte und werde sie weiterhin behalten. Eine andere Charakteristik der Wiener Gesellschaft hat mich aber oft beschäftigt: Man darf bedauern, dass man im Allgemeinen kein Bewusstsein dafür hat, welches Glück es ist, hier zu leben. Österreich ist ein tolles Land, Wien ist eine wunderbare, eine historische Stadt, schön, gepflegt, sicher, ohne Luftverschmutzung. Wenn ich höre, wie man sich über die Arbeitslosigkeit und über die Staatsschulden aufregt, da sollte man schauen, was in Spanien, Italien, Frankreich oder Griechenland passiert.

Sie lassen 15 Millionen Euro Rücklagen für Ihren Nachfolger zurück. Wie ist das trotz der dreimonatigen Sperre möglich?
Das ist eine komplizierte Sache. Wir verfügten bereits über gute Rücklagen, und wir hatten einen tollen Saisonbeginn mit 1,2 Millionen Euro mehr an Einnahmen, und das, ohne dass wir die Preise erhöht haben. Was uns auch sehr geholfen hat, ist die Kurzarbeit. Am Ende werden wir etwas weniger haben als prognostiziert, aber wir werden ein Plus verbuchen. Was mich gekränkt hat, war, dass man mich als "Auslastungsstreber" beschreibt. Man sollte sich doch freuen, wenn die Auslastung stimmt.

Wie ist das mit der Auslastung tatsächlich? Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Spielzeit 2015/16 gaben Sie 97,7 Prozent an, der Rechnungshof aber nur 83 Prozent. Wie kam es zu einer solchen Differenz?
Es gibt zwei Konzepte, die Auslastung zu berechnen, die physische und die wirtschaftliche. Ich spreche von der physischen, also der tatsächlichen Belegung der Plätze, da sind Dienstkarten für die Sänger, Regiekarten und Pressekarten dabei. Der Rechnungshof gibt nur an, was wirklich in die Kasse fließt. Aber unsere Einnahmen sind massiv. Allein im vergangenen Jahr verbuchten wir 37,5 Millionen Euro. Als ich angefangen habe, waren es 28 Millionen.

Wie kam es, dass die freiberuflichen Sänger und Dirigenten nach dem Lockdown keinerlei Entschädigung bekommen haben?
Am Anfang fühlte ich mich ein bisschen allein. Es gab eine Sitzung diesbezüglich, zu der ich nicht einmal eingeladen wurde. Man hat sich danach entschuldigt. Als Andrea Mayer kam, wurde das sehr schnell erledigt. Die freien Künstlerinnen und Künstler bekommen jetzt eine Entschädigung. Wir haben darauf geachtet, dass die Künstler, die weniger bezahlt bekommen, im Verhältnis zu ihren Gagen eine höhere Entschädigung bekommen als jene, die viel verdienen.

Zur Person
Dominique Meyer wurde am 8. August 1955 als Sohn eines Diplomaten im Elsass geboren, war Berater des französischen Kulturministers Jack Lang und für die Gründung des Fernsehsenders Arte verantwortlich. 1989 wurde er Generaldirektor der Pariser Oper. 1994 übernahm er die Oper von Lausanne. Ab 1999 leitete er das Théâtre des Champs-Élysées. 2010 wurde er Direktor der Wiener Staatsoper. Seit März dieses Jahres ist er Intendant der Mailänder Scala. Dominique Meyer ist verheiratet und hat einen Sohn.