Ein bisschen was geht immer

Für den Beitritt zur EU gibt es ein fixes Prozedere. Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Die braucht es auch nicht. Durchhalteparolen übrigens auch nicht.

von Leitartikel - Ein bisschen was geht immer © Bild: News/ Matt Observe

Es ist schon wieder passiert. Schon wieder ist Österreich ausgeschert und hat für Schlagzeilen gesorgt. Diesmal in der Person des Außenministers. Alexander Schallenberg ist nämlich überzeugt, dass eine Anbindung eines Staates wie der Ukraine nicht zwangsläufig über eine Vollmitgliedschaft passieren muss. Statt über Eilverfahren sollte besser über "maßgeschneiderte Angebote der engstmöglichen Anbindung der Ukraine an die EU" nachgedacht werden, befindet der Chefdiplomat in einem Interview beim Mediengipfel in Lech am Arlberg. Die Reaktionen auf den Außenminister auf Abwegen und noch dazu ausgerechnet aus jenem Land, das sich schon in der Vergangenheit nicht immer mit einer knallharten Linie gegenüber Russland in Szene gesetzt hat, folgten prompt. "Unerhört! Blamage! Peinlich!", urteilte das Twitter-Gericht. Ein "strategisch kurzsichtig" richtete das Außenministerium in Kiew aus. Ein herzliches Dankeschön über das vermeintliche Nein zu einer Mitgliedschaft der Ukraine gab es aus Moskau.

Keine Frage, am Timing lässt sich arbeiten. An den Beweggründen vielleicht auch. Andererseits: Dem Außenminister wurde eine Frage gestellt – und die darf er beantworten. Wer von dieser Antwort mehr als nur zwei Halbsätze gelesen hat, versteht in der Folge die Aufregung nicht. Schallenberg skizziert einen langen Beitrittsweg für die Ukraine und benennt die Probleme. Er warnt vor falschen Erwartungen und plädiert dafür, dass man den Westbalkan dabei nicht vergessen dürfe. Und er verspricht, sich in Brüssel für eine neue Konzeption der Nachbarschaftspolitik starkzumachen. Was Letzteres betrifft, wird man auch ihn an seinen Taten messen. Mit allen anderen Ansagen befindet er sich in guter Gesellschaft. Nur vergessen haben das viele. Das kann schon mal passieren in Zeiten wie diesen.

»Es geht um weniger Versprechen und mehr echte Perspektive«

Ja, in der Ukraine werden auch unsere Freiheit und Demokratie verteidigt. Und ja, ein EU-Beitritt wäre gerecht und verdient. Auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wollte da gar nicht widersprechen. "Sie sind einer von uns, und wir wollen sie drin haben", richtete sie Ende Februar Wolodymyr Selenskyj aus. Ihr erster Satz: "Im Laufe der Zeit gehören sie tatsächlich zu uns", ging dabei mehrheitlich unter. Und auch beim folgenden EU-Gipfel in Versailles gab es keine Aussicht auf Beschleunigungsszenarien, dafür einmal mehr eine Durchhalteparole der Regierungschefs: "Die Ukraine gehört zu unserer europäischen Familie."

Was es heißt, "im Laufe der Zeit" zur Familie zu gehören, wissen jene, die schon lange im EU-Warteraum sitzen – eben jene sechs Länder des Westbalkans, von denen überhaupt nur zwei verhandeln. Auch weil der EU zwischenzeitlich das Interesse an einer ambitionierten Erweiterungspolitik irgendwie verloren gegangen war. Jetzt, wo man weiß, dass Moskau großes Interesse daran hat, Spannungen im "Hinterhof Europas" anzufachen, ändert sich das wieder. "Wir müssen wegkommen von leeren Phrasen wie einer zeitlich nicht definierten europäischen Perspektive und hin zu einer konkreten Anbindung etwa in wirtschaftlichen Belangen", sagt folglich der Integrationsexperte Gerald Knaus mit Blick auf den Westbalkan. "Wer von einer Vollmitgliedschaft redet, denkt zu sehr in alten Zeiten", befindet Alexander Schallenberg mit Blick auf die Ukraine. Beide haben recht.

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