"Wir brauchen ein
digitales Erwachen"

Im Zuge der Corona-Krise ist bekannt geworden, dass der Telekom-Anbieter A1 die Bewegungsprofile seiner Nutzer an die Regierung weitergegeben hat, um die Wirksamkeit der Ausgangsbeschränkungen überprüfen zu können. Aber wie weit soll man bei der digitalen Überwachung der Bevölkerung gehen? Telekommunikationsexperte Helmut Spudich erklärt im Interview, wie sich Corona auf die Handyüberwachung auswirken könnte und warum "Ich habe ja eh nichts zu verbergen" trotzdem nicht gilt.

von Telekommunikation - "Wir brauchen ein
digitales Erwachen" © Bild: iStockphoto.com

Herr Spudich, im Zuge der Coronavirus-Pandemie wurde bekannt, dass A1 der Regierung die Bewegungsprofile aller Handynutzer österreichweit zur Verfügung stellt. Wie beurteilen Sie diese Maßnahme?
Es gibt in diesem Zusammenhang zwei Arten der Nutzung von Handydaten. Das genannte Beispiel zählt zur harmloseren Art, das sind anonymisierte Bewegungsdaten, wie sie übrigens auch bei jeder Navigation genutzt werden. Für mich stellt sich eher die Frage, was man mit diesen Daten macht. Wenn der Krisenstab der Regierung das nutzen kann, ist es umso besser.

Worum es aber eigentlich gehen sollte und das braucht eine größere Diskussion, ist Tracking über Bewegungsdaten. Darunter wäre in der derzeitigen Situation die Nachverfolgung einer infizierten Person zu verstehen, um Kontaktpersonen zur weiteren Eindämmung verständigen zu können. Dazu müsste man aber die Standortdaten genau ermitteln und die Anonymität aufheben. Nur so ließen sich Infektionswege wirklich präzise rekonstruieren.

Sind anonymisierte Bewegungsdaten so ungenau?
Mobilfunkdaten haben je nach Situation nicht dieselbe Genauigkeit wie GPS. Das hängt einerseits davon ab, wie dicht das Mobilfunknetz ist: In Städten ist es genauer als am Land, weil es wesentlich mehr Funkzellen gibt. Andererseits gibt es innerhalb der Mobilfunktechnik verschiedene Ausführungen, also beispielsweise, wie viele Antennen 360 Grad abdecken. Es gibt auch Techniken, die die Laufzeit von der Funkstation zum Endgerät messen und so die Distanz besser einordnen können. All das sind Variablen, die der Betreiber weiß, aber die man nicht so gut wie GPS – nämlich auf den Meter genau - einschätzen kann.

Bezweifeln Sie die Sinnhaftigkeit der konkreten Datenerhebung von A1?
Das lässt sich aus der Ferne schwer beurteilen. Wenn Daten anonymisiert sind, bedeutet das ja, dass Daten nur verarbeitet werden dürfen, wenn sich mindestens 20 Menschen in einer konkreten Mobilfunkzelle befinden. Mit anderen Worten: Wenn eine einzelne Person das Haus verlässt, sind das keine Daten, die man weitergeben kann, weil sie nicht mehr anonymisiert sind. Bei der Mindestgröße ist die Frage, was es bedeutet, in einer Mobilfunkzelle 20 Personen zu haben - Wenn sich die Daten weiterbewegen, dann müssten in der Zelle auch jedes Mal dieselben 20 Personen sein.

»Diese Art von anonymisierter Datennutzung ist rechtlich gedeckt«

Ist die Datenweitergabe tatsächlich so unbedenklich, wie es A1 darstellt?
Ja, die in Österreich geltende Interpretation ist, dass diese Art von anonymisierter Datennutzung rechtlich gedeckt ist. Die Weitergabe ist an sich auch nicht neu, sie speist bereits diverse Verkehrsinformationssysteme.

Im großen Bild gesprochen, also in der kommerziellen Nutzung anonymisierter Daten, wäre ich schon skeptischer, das beschreibe ich ja auch in meinem neuen Buch. Führt man viele solcher Datenquellen zusammen, was eine Handvoll sehr spezieller Datenhändler bereits macht, dann kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit diese Daten wieder entschlüsseln. Eine Anonymisierung ist dann kaum aufrechtzuerhalten.

Glauben Sie, dass die Coronavirus-Pandemie rechtliche Konsequenzen auf die Nutzung von Smartphones haben wird, wie Experten das bereits fordern?
Ich persönlich glaube, dass genaues Tracking die wichtigere Anwendung wäre und zweifelsohne das Aufheben der Privatsphäre nach sich ziehen würde. Dafür müsste man eine gesetzliche Maßgabe ähnlich wie das Covid-19-Gesetz umsetzen. Sie müsste zeitlich begrenzt sein, die Verarbeitung dürfte nur durch zivile oder staatliche Agenturen erfolgen. Ein Verwertungsverbot für Zufallsfunde müsste darin auch enthalten sein. Das heißt, dass die Überwachung nur zweckgebunden erfolgen dürfte und – vielleicht mit Ausnahme von Kapitalverbrechen - keine weiteren Delikte berücksichtigen. So eine Möglichkeit der Überwachung kann man in einer Demokratie jedenfalls nur wahrnehmen, wenn man klare und strenge Regeln dafür aufstellt.

Big Brother im Namen des Allgemeinwohls – lässt sich das aus Ihrer Sicht rechtfertigen?
Das ist sehr zugespitzt. Wir befinden uns in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, das ist nicht irgendeine Situation. Wenn Grundrechte wie das Versammlungsrecht und das Recht auf freie Bewegung außer Kraft gesetzt sind, ist aus meiner Sicht auch das Nachspüren einer Infektionsspur eine sinnvolle Maßnahme.

»Die Grenzen der Privatsphäre werden schon vor einer Krise festgelegt«

Im asiatischen Raum nutzt man schon Kreditkartentransaktionen und öffentliche Überwachung, um Infizierte zu tracken. Wo sollten die Grenzen zur Privatsphäre liegen?
Die Grenzen der Privatsphäre werden schon vor einer Krise festgelegt. Gerade in einem Krisenfall ist es ja wichtig, für möglichst viel Information auf alle verfügbaren Systeme zugreifen zu können. Es wäre also ganz unwahrscheinlich, dass dann beispielsweise Handydaten genutzt würden, eine Gesichtserkennung in Echtzeit bei Überwachungskameras aber nicht.

Wir tragen rund um die Uhr Überwachungskamera und -mikrofon bei uns, weisen Alexa auf unsere Vorlieben hin und lassen sogar freiwillig Vitaldaten von unserem Smartphone in die Cloud laden. Sind wir mit unserer Bequemlichkeit im Endeffekt nicht selbst schuld daran uns zu vergläsern?
„Selbst schuld“ ist in diesem Fall ein relativer Begriff, weil das Verständnis der Nutzer für eine Technologie immer erst mit einer gewissen Zeit wächst. Um ein anderes Beispiel zu bemühen: Vor 100 Jahren konnte noch niemand die Entwicklung des Autos und die damit verbundenen Probleme vorhersehen. Bei der Digitalisierung passiert alles noch wesentlich schneller.

Jetzt geht es darum, dass wir ein digitales Erwachen brauchen, welche Überwachungsstrukturen entstehen und welches Gegengeschäft wir eingehen, wenn wir bei einer App auf „OK“ drücken und ihr damit alles erlauben. Man könnte vielleicht auch zu dem Schluss kommen, die App besser sein zu lassen, oder dass es besser wäre, die kostenpflichtige Version der App zu kaufen.

Bedarf es einer Mäßigung? Weil Sie das Beispiel vorhin genannt haben: Ich fahre ja auch nicht jeden Tag mit dem Auto 300 km/h auf der Autobahn, nur weil es rein technisch locker machbar ist…
Das Smartphone ist ein tolles Instrument, ich glaube, dass es zum Beispiel im Gesundheitsbereich noch viel Potenzial hat. Gleichzeitig müssen wir aber schon einsehen, wo es individuell Risiken gibt und wie wir sie auch durch Gesetzgebung begrenzen können. Ja, wir brauchen gewisse „Geschwindigkeitsbegrenzungen“ und wir brauchen auch nicht immer eine „Autobahn“, um die Analogie fortzuführen.

Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: TikTok ist über Nacht zu einem Renner geworden. Die App ist der „westliche Bruder“ einer chinesischen App in Besitz eines chinesischen Unternehmens. In China soll die App zur Überwachung und zur politischen Manipulation von Menschen verwendet werden. Darüber wurde in westlichen Medien berichtet, also wäre der praktische Zugang, dass man mit der Nutzung dieser App vielleicht doch lieber noch zuwartet.

»"Ich habe ja eh nichts zu verbergen" sollte kein Leitbild für Regulierungen sein«

Wie stehen Sie zu der Aussage „Ich habe ja eh nichts zu verbergen“, die man in der Diskussion um Privatsphäre oft zu hören bekommt?
Die Aussage ist nachvollziehbar auf eine individuelle Einschätzung von möglichen Risiken, aber sie ist kein Leitbild dafür, wie die Regulierung aussehen sollte. Was man zum Beispiel in Österreich nicht zu verbergen hat, missfällt in einer globalisierten Welt möglicherweise einem amerikanischen Immigration Officer bei der Einreise in die USA. Die Messlatte „Ich habe nichts zu verbergen“ ist ein sehr relativer Begriff, was jemand als persönliches, privates „Geheimnis“ empfindet und wer anderer nicht.

In Ihrem neuen Buch geben Sie eine Reihe praktischer Tipps im Umgang mit dem Smartphone. Wenn Sie nur einen Tipp geben dürften, welcher wäre das?
Mein primärer Tipp wäre es, die Standortbestimmung nur den wenigen Apps zu erlauben, die das wirklich brauchen, also vor allem bei der Benutzung von Karten. Dazu gehört auch, wenn man Karten von Google nutzt, dass man im Google-Konto die Einstellung vornimmt, dass die Daten nicht gespeichert werden.

© Lukas Beck

Zur Person: Helmut Spudich war Unternehmenssprecher von Magenta Telekom. Er war für die gesamte Unternehmenskommunikation zuständig und wurde von 2012 bis 2016 zum besten Pressesprecher der Branche IT/Telekommunikation gewählt. Davor war er Journalist, zuletzt Chef des IT-Ressorts der Tageszeitung Der Standard. In seinem neuen Buch „Der Spion in meiner Tasche – Was das Handy mit uns macht und wie wir es trotzdem benutzen können“ analysiert er die Risiken beim Umgang mit Mobiltelefonen

Mehr Infos zu Risiken beim Umgang mit Mobiltelefonen:

© Verlag Edition a

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