Lob der Nebenschauplätze: das Große im Kleinsten

An Wiener Großbühnen beginnt man sich zunehmend zu langweilen, wie auch der zögernde Zulauf belegt. Aber schauen Sie einmal ins Scala-Theater oder zu Alexander Waechter auf den Franz-Josefs-Kai! Sie werden staunen

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Die unergründlichen Wege des Kritikerberufs führen mich seit September wieder öfter an die kleinen Schauplätze des Wiener Theaterlebens. Die neuen Direktionen im Meidlinger Kabelwerk und im Schauspielhaus waren ermutigender Beobachtung zu unterziehen, und am vergangenen Sonntag saß ich im Studioraum des Scala-Theaters in der Wiedner Hauptstraße, um dort das Große im Kleinsten zu studieren. Das Zweieinhalbpersonenstück "Blackbird" ist ein Kammerspiel aus der Hölle, ein Gerichtstag mit vorausgefertigtem Urteil: zweimal lebenslang bis ans Ende aller Tage. Der bald danach aus der Wahrnehmung verschwundene Schotte David Harrower hat das klaustrophobische Konstrukt vor 18 Jahren gezimmert und möbliert: ein Kinderschänder und sein Opfer, sie war zwölf und er 40. 13 Jahre später, vier von ihnen in der Ächtungshölle des Gefängnisses, hat er sich sein Leben zurückgeholt. Er bekleidet in einer heruntergekommenen Firma Führungsposition, hat eine Lebensgefährtin und zieht, der Gedanke bereitet Übelkeit, eine minderjährige Stieftochter groß.

Da steht mit einem Mal das Opfer von damals in der Tür und hat sich nichts zurückgeholt. Nur der Schmerz ist geblieben, und eine irrsinnige Sehnsucht. Denn die beiden haben einander, wer weiß, vielleicht geliebt? Nun kann man dem britischen Theater viel nachsagen, vor allem, dass es konservativ sei und sich den Entwicklungen verschließe. Man kann diese Nachteile aber auch als Vorzüge interpretieren: Was den Bau der Geschichten und ihre Nacherzählung betrifft, die emotionalisierenden Gestalten, die Perfektion der Dialoge, kann den Briten niemand etwas erzählen. Anders als das vom Belehrungswahn gerittene deutsche Theater moralisiert Harrower nicht. Das ist das Geheimnis: Er lässt uns allein, die Köpfe voll verstörender Fragen.

Und wie ich die Aufführung genossen habe! Kein Dramaturgengeplapper, keine Musikbeschallung, kein Ausstattungs- und Videomüll. Nur die herausragenden Schauspieler Soi Schüssler und Sam Madwar und die 14-jährige Yara Winter mit einem so intensiven Leuchten, wie es auf der Bühne nur Kinder erzeugen können.

Nicht anders, ist mir da eingefallen, war es zuletzt im Kabelwerk mit Palmetshofers fabelhaft gespieltem Dorfdrama "Die Verlorenen": Alles ist da Sprache, fünfhebige Jamben, die sich die Lebensbanalitäten der Verlorenen auf die Flügel laden, melodisch, elegant und unheimlich komisch.

Dann das Schauspielhaus, mit Sivan Ben Yishais pfiffiger Handke-Überdribbelung "Bühnenbeschimpfung": Nicht mehr die Spießer im Parkett werden angegangen, sondern die woke Blase, in der sich Theatermacher und Kritiker zum Überdruss des Publikums eingerichtet haben. Im Theater franzjosefskai21 mit seinen 49 Plätzen schließlich verbieten sich Eskapaden von selbst. Für mehr als den Theatereigner und einzigen Mitwirkenden Alexander Waechter, der hier seit Oktober vor ausverkauftem Haus Kafkas "Verwandlung" spielt, fehlt schlicht der Platz.

All das habe ich mir auf dem Heimweg vom Scala-Theater auf der nächtlichen Wiedner Hauptstraße überlegt und bin bald über das Dokumentarische hinausgelangt: Keine der hundert Mal teureren Herbstproduktionen der "Burg" oder der "Josefstadt" konnte mich zuletzt vergleichbar interessieren.

Nämliches dachte ich mir schon im Sommer. Da genügten den von Maria Happel geleiteten Festspielen in Reichenau ein Podest, ein paar Sessel und ein tolles junges Ensemble für eine glänzende Dramatisierung der "Kapuzinergruft" von Joseph Roth. Neun aktive oder eben absolviert habende Reinhardt-Seminaristen traten da ins Bühnenlicht. Kurz, nachdem eine offiziell anonyme Partie aus der "Studierendenschaft" die Seminardirektorin Happel unter dem Vorwurf mangelnder Wokeness aus dem Amt lamentiert hatte. Eine unabhängige Kommission hat nun festgestellt: Es war gar nichts. Man darf wohl annehmen, dass die Lamentierendenschaft ohne Verzug des Instituts verwiesen wird und bald die Trainierendenschaft des einen oder anderen Yogastudios unterstützen darf. Beispiele gibt es.

Noch etwas wollte ich Ihnen erzählen: Am Montag der Vorwoche trat der frühere Burgschauspieler Florian Teichtmeister vor das Arbeits- und Sozialgericht in der Althanstraße. Er ist arbeitslos, alle einschlägigen Angebote wurden storniert, und unterzieht sich, engmaschig überprüft, den geforderten Tests und Therapien. In dieser Situation verklagt ihn das Burgtheater auf uneinbringliche 76.000 Euro Schadenersatz für abgesagte Vorstellungen, neu gedruckte Programmhefte, Rechtsanwaltskosten und Vergleichbares. Die Kosten sind aufgelaufen, weil Teichtmeister im Angesicht der sich aufbauenden Katastrophe ein Jahr lang in Hauptrollen an die Rampe gestellt wurde. Für die Folgen sollte sich das Unternehmen in der Tat schadlos halten. Tunlichst dort, wo Einbringlichkeit garantiert wäre.

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