Christina Stürmer: Gegen den Strom

15 Jahre nach ihrem Durchbruch bei „Starmania“ erfindet sich Christina Stürmer neu. Ein Blick zurück legt ein altes Erfolgsgeheimnis frei, das sie heute abermals anwendet.

von Musik - Christina Stürmer: Gegen den Strom © Bild: Ingo Pertramer/Universal Music

Schüchtern, wo andere sich im Rampenlicht sonnten. Zurückhaltend, wo andere laut von großen Zielen sprachen. Als die Oberösterreicherin Christina Stürmer vor 15 Jahren von der Castingshow „Starmania“ an die Öffentlichkeit gespült wurde, schien eine lukrative Karriere als Popsängerin weit weg. Nur auf der Bühne, wenn sie zum Mikrofon griff, wurde spürbar: Da fühlt sie sich wohl, da ist sie zuhause. Die kleinen Bühnen und Auftritte vor ein paar Dutzend Leuten kannte sie vom Tingeln mit ihrer damaligen Band Scotty. Als Sängerin gab die Schulabbrecherin, die eine Buchhändlerlehre absolvierte, Coverversionen zum Besten. Um den Spaß an der Musik ging es vornehmlich. So wäre es heute noch, hätte es „Starmania“ nie gegeben, sagt sie zum Jubiläum. Sie würde arbeiten, vermutlich als Kindergärtnerin, und nebenbei singen – als Hobby.

Es ist diese zwanglose Sicht, ein Nicht-Müssen, das möglicherweise zu Christina Stürmers Erfolgsgeheimnis wurde. Als eine Freundin sie bei der ORF-Show anmeldete, bei der Stürmer schließlich Platz zwei belegte, hatte die damals 20-Jährige keinerlei Erwartungen. „Die Show war neu. Niemand wusste, was passieren wird. Ob es danach jemandem zu einer Karriere verhelfen wird, war doch völlig ungewiss“, erinnert sie sich im News-Gespräch an damals. Während andere es um jeden Preis zum Star schaffen wollten, erschien ihr das völlig unrealistisch. „Ich habe nie auch nur ansatzweise damit gerechnet, dass ich heute Sängerin sein würde, Alben mache und Interviews gebe“, sagt sie. Es scheint, als wäre sie selbst nach über 1,5 Millionen verkauften Tonträgern noch überrascht, dass sie Österreichs erfolgreichste Popkünstlerin des vergangenen Jahrzehnts ist.

Frei von selbst auferlegtem Erfolgsdruck konnte sie auf ihrem Weg Entscheidungen treffen, die rückblickend spielentscheidend waren. „Ich wusste immer, dass ich Deutsch singen will, und mir war auch egal, wenn das jemand nicht gut gefunden hat“, erzählt Stürmer. Andere schielten auf eine Karriere und ließen sich mit wohlgemeinten Tipps dreinreden. Nicht so Stürmer.

Einen Schritt zu weit gehen

Sie sang damals Lieder in deutscher Sprache, obwohl sie bei „Starmania“ mit englischen Hits wie „Hot Stuff“ die höchsten Anruferquoten erreicht hatte. Heute wagt sie einen neuen Sound, der sich an Synthesizern, Keyboards und Drumcomputern orientiert, obwohl sie als „Rockröhre“ mit gitarrenlastigen Liedern bekannt wurde. Der Schritt überraschte ihr Management und die Plattenfirma. Nicht so sehr Stürmer selbst. Schon nach dem Album „Seite an Seite“ (2016), noch bevor Tochter Marina zur Welt kam, habe sie beschlossen, künftig mehr zu wagen, wie sie sagt.

„Die Idee war, beim Liederschreiben mal Neues zu probieren und lieber einen Schritt zu weit zu gehen, als nur Minischrittchen zu machen. Raus aus der Komfortzone. Im schlimmsten Fall weiß man, wohin man nicht wollte. Aber zurückrudern ist leichter, als gar nicht vom Fleck zu kommen“, beleuchtet sie die kreativen Erfahrungen der letzten zwei Jahre. Zu Hause im Weinviertel sind fast alle Songs für das neue Album „Überall zu Hause“ entstanden.

Die Texte wurden alle von Christina Stürmer mitgeschrieben, unterstützt wurde sie von Freunden und Kollegen wie Oliver Varga, Tom Albrecht, dem ehemaligen Selig-Gitarrist Christian Neander oder Joe Walter, Keyboarder der Band Jennifer Rostock. Produzent Eki von Nice schrieb u. a. an der Single „In ein paar Jahren“ mit und dosierte das Ausmaß der neuen Beats. Dass diese live nach wie vor auf dem Schlagzeug gespielt werden können, war jedoch eine Vorgabe. Schließlich soll der Drummer auf Tour nicht plötzlich frei haben, weil sein Part vom DJ kommt, erklärt Stürmer. Der Neuerfindungsprozess tat ihr gut. „Wir wollten es selbst machen, denn auch wenn Liederschreiber von außen gute Lieder liefern, spüren die ja doch nicht, was jetzt gerade zu mir passt“, sagt sie. Wohltuend sei es gewesen, nicht mehr damit konfrontiert zu sein, wie ein Stürmer-Song zu klingen habe. „Davon haben wir uns komplett frei gemacht. Stürmer war immer so und muss deshalb so klingen – das haben wir weggeräumt.“

Dass sie beim Liederschreiben oft die US-Bands One Republic und Imagine Dragons gehört hat – die ihren Sound auch von rockig auf elektronisch weiterentwickelten –, habe sie beeinflusst und bestärkt, sagt sie. „Wenn heute jemand auf Facebook schreibt, er kauft mein Album zum ersten Mal nicht, weil kaum Gitarren zu hören sind, ist das schade, aber für mich ist es der richtige Weg. Ich liebe die Zeiten von ,Ich lebe‘ und ,Nie genug‘, aber heute fühle ich mich nicht mehr als die Rockröhre, als die ich immer bezeichnet worden bin“, fügt sie hinzu.

Lernen zu verlieren

Fröhlich, lebensbejahend, aber auch im positiven Sinn hinterfragend ist Stürmers Werk geworden. Die Geburt ihrer Tochter Marina – Vater ist der Gitarrist Oliver Varga – hat dazu beigetragen. „Natürlich verändert es einen, wenn man Mutter wird. Es klingt kitschig, aber man wird tatsächlich stärker, bekommt ein breiteres Kreuz. Ich bin in meinen Entscheidungen klarer und schneller, weil ich etwas vorantreiben will. Und jede Entscheidung betrifft nicht mehr nur mich, sondern auch sie“, erklärt die 36-Jährige. Teilweise ist es einfach Lebenserfahrung, die Stürmer nun stärker macht. „Ich habe soviel Zeit mit Pro-und-­Contra-Listen vertan, so oft gedacht, ich müsse noch eine Nacht über irgendwas schlafen. Dabei sagt mein Bauchgefühl ohnehin, wohin es gehen soll. Und sollte es einmal doch der falsche Weg gewesen sein, ist es auch okay“, so Stürmer. „Wir müssen lernen, zu verlieren“, singt sie im Lied „Schere, Stein, Papier“, das aus diesen ­Gedanken gewachsen ist.

Der Titelsong „Überall zu Hause“ ist als flotte, poppige Liebeserklärung an Oliver Varga und die ganze Familie zu verstehen. „Auf sieben Kontinenten gibt’s nichts, das mir fehlt, denn ich bin überall zu Hause, solang du bei mir bist“, so der Text. Sie empfinde tatsächlich so, bekräftigt sie: „Viele finden es besser, wenn man einander mal ein paar Stunden am Tag nicht sieht. Die fragen mich dann, ob es nicht schwer ist, wenn wir ständig aufeinander picken. Aber ich finde das immer gut, wenn Oliver in der Nähe ist. Wenn etwas schön ist, kann ich es mit ihm teilen, wenn etwas unangenehm oder anstrengend ist, ist er als Schulter zum Anlehnen für mich da.“ Dafür, dass sie sich „überall zu Hause“ fühle, sei natürlich auch die immerwährende Anwesenheit der zweijährige Marina verantwortlich. Überhaupt ist Reisen und Tourleben „ein „riesen Familiending“: Nach Christinas Schwester bei den vergangenen Konzerten sind bei der anstehenden Tournee, die nächsten Frühling in Deutschland startet (Ö-Termine: 17. 5. Wien; 18. 5. Graz), Vargas Eltern als Tourbegleitung dabei.

So wie damals

Zu den wenigen melancholischen Balladen auf dem neuen Album zählt das Stück „Nochmal so tun“, das das Ende einer Beziehung dokumentiert. „Lass uns nochmal so tun, als hätten wir’s geschafft, als hätten wir noch einmal Glück gehabt“, heißt es im Text. Doch hier gibt es nichts falsch zu verstehen. Der Song sei plötzlich dagewesen, erzählt Stürmer, und auch, dass sie gehadert habe, ihn zu singen, weil er nichts mit ihrer Beziehung zu Oliver zu tun habe. „Beim Singen bin ich draufgekommen, dass er mich berührt, auch wenn er nichts mit meinem Leben zu tun hat. Also ist der Song geblieben.“

Dem Bauchgefühl folgen, Entscheidungen treffen, ohne eine Erwartungshaltung zu haben. Christina Stürmer tut es jetzt wieder. So wie damals, als es den Startschuss ihrer Karriere bedeutete.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 37/2018