Walkner: Der ganz
normale Extremsport

Matthias Walkner gewinnt als erster Österreicher die Rallye Dakar, mit mehr Genauigkeit als Schnelligkeit. Seinen größten Sieg hat Walkner allerdings gegen sich selbst errungen: die "zache" Rehabilitation von einem schweren Oberschenkelbruch – erlitten auf der Dakar zwei Jahre zuvor.

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normale Extremsport © Bild: Michael Mazohl

Spinnt das Navigationssystem? Die Straße folgt einem Bachbett und führt in einen Nadelwald. Es wird enger, geht steil bergauf, die Zweifel steigen mit jedem Höhenmeter. Der Asphalt ist nass und rutschig, die nächste scharfe Kurve in Schrittgeschwindigkeit zeigt, es wird noch steiler und das Auto breiter als die Straße. Endlich: ein Haus und Matthias Walkner, der ein Motorrad aus der Garage schiebt. Der Blick auf das kleine Tal ist atemberaubend, die Wolken lichten sich, der Blick auf die Bergwelt wird frei. Kurzum: eine Idylle. Es ist das Elternhaus von Matthias, in der Nähe von Kuchl in Salzburg. Hier ist er aufgewachsen.

Mit 31 Jahren hat Matthias Walkner Sportgeschichte geschrieben: Er hat zu Beginn des Jahres als erster Österreicher die Motorradwertung der Rallye Dakar gewonnen. "In der Sportgeschichte, über die in Österreich berichtet wird", hakt Matthias ein. Denn seine Motocross-Erfolge, sein Rallye-Weltmeistertitel, seine Podiumsplätze auf der Dakar in den Jahren zuvor blieben weitgehend unbeachtet. "Ich hätte mir nicht gedacht, dass es so einen großen Unterschied macht, ob ich Erster werde oder Zweiter so wie letztes Jahr." Willkommensparty im Fußballstadion, Fernsehauftritt, Pressekonferenz standen auf dem Programm, und zum Empfang in Kuchl gab es ein Festzelt am Marktplatz.

Das Wasser aus dem Gartenschlauch bringt die verstaubten Farben des Red-Bull-Logos wieder dazu, orange und rot zu leuchten. "Die sind so geil grell, diese neue Farben", ist Matthias Walkner zufrieden, und poliert mit einem Lappen nach. Die KTM 450 wurde für Rallyes modifiziert. Größerer Tank, ein eigener Wassertank und für ein wenig Komfort hat die Maschine eine größere Windschutzscheibe, "damit man nicht stundenlang so viel Luftwiderstand auf der Brust hat". Sonst hält sich der Komfort auf einer Rallye sehr in Grenzen. Geschlafen wird im Wohnmobil, vier, manchmal vielleicht fünf Stunden. Die Tagesetappen dauern bis zu zwölf Stunden. Dazu kommt das "Roadbook", das Walkner den genauen Verlauf der Strecke anzeigt, mit GPS-Kilometerangaben und Richtungspfeilen. Jeden Abend vor einer Etappe gibt es ein neues für den nächsten Tag, das er penibel durcharbeitet – was wieder zwei bis vier Stunden in Anspruch nimmt.

Ein Aufwand, der sich ausgezahlt hat: Die Dakar hat Walkner gewonnen, weil er sich an einem entscheidenden Wegpunkt Zeit gelassen hat. "Wobei, wenn ich meine, ich hab mir Zeit genommen – dann waren das eineinhalb Sekunden statt einer Sekunde, in denen ich mich entschieden habe", beschreibt der Extremsportler die Situation, in der er aus dem Augenwinkel das Roadbook mit dem Streckenverlauf vergleichen muss. Als einziger fährt er an der Spur aller anderen vor ihm vorbei und biegt in einen anderen Seitenarm eines ausgetrockneten Flussbetts. Er holt sich so einen Zeitvorsprung, der ihm den Sieg bringt.

Frontal in den Graben

Ein Fehler aus dem Augenwinkel hätte ihm bei seinem zweiten Dakar-Antritt 2016 beinahe die Karriere gekostet. Ein Schatten entpuppt sich als Graben. "Wäre ich schneller gewesen, hätte ich vielleicht drüberspringen können", er analysiert diesen Moment immer wieder, "aber so bin ich frontal in den Gegenhang gestürzt." Mit dem Oberschenkel bleibt er am Lenker hängen. "Es war fast ein offener Bruch, es war nur mehr ein Fetzen Haut dazwischen." Die Ärzte unterschätzen dabei die lebensgefährliche Situation. "In Österreich haben sie dann gemeint: Ein Wahnsinn, der Knochen hätte ganz leicht die Schlagader durchtrennen können, und dann …", Walkner spricht es nicht aus.

Erst zwölf quälende Stunden später wird er in das Spital in La Paz (Bolivien) eingeliefert. "Und das war wirklich grindig. Richtig, richtig grindig: braune Flecken am Boden und in den Ecken, es hat ausgesehen wie getrocknetes Blut." Hauptsache, der Chirurg macht einen guten Job. "Den Namen werde ich nie vergessen: Christian Fuentes Bazán." Der Arzt versichert ihm, in guten Händen zu sein, macht noch ein Selfie mit Walkner, schickt es an seine Freunde, und ab geht es auf den OP-Tisch. "Die Ärzte hier haben gesagt: eine Operation wie aus dem Lehrbuch."

© Michael Mazohl Das Rallye-Roadbook: "Fahr einmal mit 140 durch ein Flussbett, in dem jede Verzweigung gleich aussieht"

Kein „Wilder Hund“

Matthias Walkner wirft den Schlauch lässig Richtung Wasserhahn, die KTM trocknet in der Sonne. Er lässt sich in einen Gartenstuhl fallen und zeichnet auf seiner kurzen Jeans den Verlauf des Knochenbruchs nach. Sind dem „Wilden Hund“ damit seine Grenzen aufgezeigt worden? Auf den Ausdruck "Wilder Hund“ reagiert der 31-Jährige nicht erfreut. „Ich bin mir der Gefahren mehr bewusst geworden, das schon. Aber ich bin kein wilder Hund und war es nie. Ich weiß genau, was ich mach. Jeder Extremsportler kennt seinen Sport genau. Extrem ist der Sport eigentlich immer nur für die anderen."

Matthias ist nicht der einzige Extremsportler in der Familie, und auch nicht der einzige Weltmeister: Schwester Eva wurde im Ski-Freeriding bereits zweimal Weltmeisterin. "Das ist bei Eva genau so. Wir trainieren unsere Grenzen und loten sie Tag für Tag neu aus. Das sind für uns eben andere Grenzen als für dich." Er führt ein Beispiel aus: "Wenn ich dich jetzt auf die Maschine setze und sage: Fahr da den Steilhang hinauf, dann wäre das für dich total extrem. Für mich das Normalste der Welt." So gesehen war schon die Anfahrt zum Haus extrem.

Von diesem "Normalsten der Welt", dem Trainingsalltag von Matthias Walkner, kann man sich auf Instagram ein Bild machen, gemeinsam mit 54.000 anderen Followern. Er postet täglich mehrere Storys und Videos. Sie zeigen, wie er mit der KTM von einer Schotterkurve durch die nächste fetzt. Immer knapp am Limit, immer haarscharf an der Grenze.

Die extremste Leistung war womöglich seine Rehabilitation nach dem Dakar-Unfall. Sie erstreckte sich über Monate. Anfangs ging es rein darum, den Alltag wieder alleine meistern zu können – an Rallyefahren war nicht zu denken, die Karriere stand auf der Kippe. Zeitweise verlief der Heilungsprozess sehr schleppend. "Aber du muss immer ein Ziel vor Augen haben." Die Arbeit an seiner Rückkehr war vor allem "super zach." Er beißt sich durch.

© Michael Mazohl Walkner mit seiner KTM 450 in der "Rallye Factory Edition". Auf einem baugleichen Motorrad hat er die Rallye Dakar gewonnen

Trainieren wie die Hirschers

Für das Durchbeißen, die harte Arbeit an sich selbst, die Professionalität hat Walkner zwei Vorbilder: Marcel und Vater Ferdinand „Ferdl“ Hirscher. Der Vater von Matthias, Matthias Walkner senior, und Hirscher Senior sind in ihrer Jugend gemeinsam Motocross-Rennen gefahren. "Ferdl" nimmt sich des Motocross-Trainings von Matthias an. Per Video analysieren sie penibel Technik und Bewegungsabläufe von Gegnern am Motorrad. "Ob ich mit dem Fußballen oder der Ferse auf Fußraster stehe oder ob ich sitze – das macht einen enormen Unterschied."

Wie lange er gebraucht hat, um einen Bewegungsablauf neu zu erlernen? "Puh, ewig. Aber so war das mit dem Ferdl: zur Trainingsbahn fahren, aufwärmen, fahren, analysieren, weiterfahren. So hat er das auch mit dem Marcel auf der Skipiste gemacht. Diese Disziplin, diese Professionalität, dafür bewundere ich die Hirschers." Walkner wird 2012 im Motocross MX3-Weltmeister. Er schließt die nächste Saison auf dem zweiten Rang ab, mit Saisonende wird seine Motocross-Klasse aber aufgelöst. Was tun?

"Rallye", sagte Heinz Kinigadner. Hat Kinigadner, eine lebende Legende des österreichischen Motorsports, die Dakar tatsächlich einmal gewonnen, wurde dann aber wegen eines regelwidrigen Motortauschs disqualifiziert? So wird es auf Kinigadners Wikipedia-Eintrag dargestellt. "Da bin ich mir nicht sicher, so ein Gschichtl hab ich auch gehört. Rufen wir ihn einfach an!", sagt Walkner und greift zum Handy. "Heinz Kini" erscheint am Display, und dieser hebt sofort ab. "Aber hör mir auf, ich bin kein einziges Mal ins Ziel gekommen", klärt er auf. Tatsächlich habe er nur einige Etappen gewonnen, und als er einmal in Führung lag, schied er eben wegen eines kaputten Motors aus. Kinigadner war es, der Matthias in das Red-Bull-Racing-Team gebracht hat, zu seinem ersten Rallye-Sieg in Griechenland und zur Dakar.

Das vielleicht größte Kompliment zum Dakar-Sieg kam von Freund Marcel Hirscher, der als Gratulation postete: "Matthias Walkner, mein Sportler des Jahres." Die enorme körperliche und psychische Leistung spricht dafür. Vor der nächsten Dakar sind für Matthias noch eine Reihe anderer Rallyes und Events geplant. Die Fans aus Österreich fiebern vor allem seinem Antritt beim Erzbergrodeo Anfang Juni entgegen, bei dem ihr "Hiasi", wie sie ihn nennen, mit der 30 Kilo schwereren Rallye-Maschine gegen die leichteren Motocross-Bikes antreten wird. Bis dahin heißt es für Walkner: trainieren. Und für seine Fans: Instagram.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 21 2018