Stillsein und Wegschauen

Auf antisemitische Vorfälle mit Betroffenheitsfloskeln zu reagieren, reicht nicht. Es müssten auch entschlossene Handlungen folgen.

von Anna Gasteiger © Bild: News/Ricardo Herrgott

Die naive Annahme, jüdische Gemeindeeinrichtungen in Wien seien seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober besonders gut geschützt, wurde letztes Wochenende auf sehr österreichische Weise widerlegt: Betrunkene rissen die Israel-Fahne vom Stadttempel, der praktischerweise gleich neben einem Ausgehviertel liegt, eine Frau imitierte Maschinengewehrgeräusche. Eine b'soffene G'schicht' also, und die gelten in Österreich bekanntlich immer irgendwie als Kavaliersdelikt, auch wenn die politisch Verantwortlichen sich angemessen betroffen gaben, und zumindest der Stadttempel, Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Wien, seitdem rund um die Uhr bewacht wird. Das Ausmaß des Antisemitismus, das dieser Tage in Österreich und in Europa sichtbar wird, ist atemberaubend. Von der Klimaschutzikone Greta Thunberg, der das Kunststück gelang, mit einem einzigen - antisemitischen - Posting nicht nur ihre eigene, sondern die Glaubwürdigkeit der gesamten "Fridays for Future"-Bewegung zu versenken, bis zu Demonstrationen deutscher Jugendlicher, die selbstgerecht und geschichtsvergessen israelfeindliche Parolen skandieren. Neben diesem linken wird der sogenannte islamische Antisemitismus immer deutlicher, von Zuwanderern nach Europa gebracht, lange Zeit ignoriert. Und die rechten Antisemiten lehnen sich indessen bequem zurück und freuen sich auf das nächste Wahlergebnis. All das scheint über Nacht gekommen zu sein, wie ein dunkler Albtraum, ein Rückfall in die finstersten Zeiten des vorigen Jahrhunderts. Die Social-Media- Konten österreichischer Regierungspolitiker sind voll von Beileids- und Betroffenheitsbekundungen, in denen "bestürzt" zur Kenntnis genommen und "aufs Schärfste verurteilt" wird. Schön. Und jetzt?

»Wo bleibt des Kanzlers Rede an die Nation, am Sonntag zur besten Redezeit?«

Die Politik hat es in den letzten Jahrzehnten offenbar verabsäumt, den wachsenden Antisemitismus zu bekämpfen. Wer übernimmt dafür die Verantwortung? Wer stattet die notorisch überforderten Pflichtschulen mit mehr Ressourcen aus, damit Lehrerinnen und Lehrer dort - wie in Sonntagsreden gerne gefordert - unsere europäischen Werte vermitteln können? Wer spricht über Antisemitismus an den Universitäten, offenbar zumindest in Nischen ein Problem? Wer macht klar, dass es sich bei Antisemitismus nicht um eine kulturelle Eigenheit handelt, für die man Verständnis aufbringen muss? Wer kritisiert beherzt, dass Politik, die ihren Erfolg auf Angst und Ausgrenzung baut, letztlich alle Minderheiten gefährdet? Wo bleibt des Kanzlers Rede an die Nation, am Sonntagabend zur besten Sendezeit, ähnlich wuchtig inszeniert wie die berühmte Autofahrer-Verteidigungsrede, in der er ein für alle mal klarstellt: In Österreich wird Antisemitismus nicht akzeptiert, und wer damit ein Problem hat, darf sich hier nicht willkommen fühlen, egal, ob seine Vorfahren aus Syrien, der Türkei oder Niederösterreich stammen?

Das europäische Wertesystem stünde auf dem Spiel, liest man jetzt mancherorts. Challenge accepted. Lasst es uns gemeinsam verteidigen. Aber entschlossener als den Stadttempel in Wien. Mit Stillsein, Wegschauen und letztlich leeren Betroffenheitsfloskeln ist dieser Kampf sicher nicht zu gewinnen. In der Politik nicht, aber auch nicht im Alltag. Ab jetzt zählt hier wie dort nur eines - Haltung.

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