Und ewig röhrt der Auhirsch

Wenn die ÖVP den grünen Koalitionspartner in Sachen Lobautunnel ignoriert, droht ein zweites Hainburg - so emotional, dass es die Regierung zerreißen würde.

von Leitartikel - Und ewig röhrt der Auhirsch © Bild: News

Es waren nur ein paar Fernsehminuten, die im Jahr 1984, kurz vor dem Heiligen Abend, einen radikalen Umschwung in der öffentlichen Meinung bewirkten: Grau adjustierte Gendarmen wuselten da durch die Hauptabendnachrichten, die ein buntes Widerstandsgrüppchen aus dem Winterwald zerrten und mit Gummiknüppeln traktierten. Irgendwo im frostigen Ostblock? Nein, ein paar Kilometer westlich des Eisernen Vorhangs, in der Stopfenreuther Au. Bis dahin war das Donau-Schwemmland rund um Hainburg den Wienern ja noch ziemlich wurscht gewesen und der Welt westlich von Wien sogar völlig. Ein geplantes Wasserkraftwerk? Ja und? Immer noch besser als Kernkraft. Und die paar hoffnungslos naiven Ökos, die da in Eiseskälte im Wald campten? Sollten sie doch, mit den sinkenden Temperaturen würde auch ihr Protest gefrieren. Irrtum! Ab jenem Moment nämlich, in dem sich vor den Augen des vorweihnachtlich gestimmten Fernsehpublikums die Staatsgewalt entlud, war alles anders: Den Geknüppelten erwuchs breite Solidarität, und der Umweltschutz wuchs zur politischen Kategorie. Tja, und die geistigen Kinder derer, die damals noch melancholisch mit dem Auhirsch um die Wette röhrten, sitzen heute als Grüne in der Regierung. Gut, die handgestrickten Schlabberpullis sind Geschichte und die verfilzten Rauschebärte von damals längst schon getrimmter Hipster-Mainstream. Doch der zivile Ungehorsam von Hainburg gehört - gerade in Zeiten von Popstar Greta und "Fridays for Future" - unverrückbar zum grünen Gründungsmythos.

So, und ausgerechnet jetzt passiert auf symbolträchtigem Boden, respektive darunter, Folgendes: Die Lobau, ein Stück wildwüchsiger Wiener Naherholungsnatur, soll untertunnelt werden. Sie befindet sich kaum 40 Kilometer westlich von Hainburg und liegt im selben Nationalpark, der nach der Rettung der "zeithistorischen" Au überhaupt erst gegründet wurde.

Damals wollte das politische Establishment günstigen Strom aus fließendem Wasser, heute will es flüssigen Verkehr für den Flächenbezirk Donaustadt, wo an allen Ecken und Enden neuer Wohnraum geschaffen wird und der Lobautunnel die Transit- und Pendlerlawine bündeln soll. Damals machte sich außerparlamentarischer Widerstand gegen die befürchtete Zerstörung der Flora und Fauna breit, und auch heute hat man Angst um das Grundwasser sowie das anrainende Getier vom Graureiher bis zur Gottesanbeterin. Mit dem Unterschied, dass der Widerstand heute nicht mehr lose organisiert und außerparlamentarisch daherkommt, im Gegenteil: Niemand geringerer als die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler hat beschlossen, die Sinnhaftigkeit des längst paktierten Tunnels noch einmal zu überprüfen.

Das muss sie, will sie der Grundposition ihrer Regierungsfraktion nach Monaten unerwiderter Treue zu Türkis endlich Gewicht und Konturen verleihen. Das muss sie aber auch, weil der Schutz der Donauauen ein grünes Dogma darstellt. Und über eines sollte sich der Öko-Polemiker Sebastian Kurz vor diesem Hintergrund durchaus im Klaren sein: Wenn er hier nicht einlenkt, droht in der Lobau ein zweites Hainburg. Mit fetten Demos. Mit jeder Menge Polizei. Und polarisierenden TV-Bildern. Und das würde die Koalition - Und ewig röhrt der Auhirschim Gegensatz zu grindigen WhatsApp-Chats samt ganz normaler Alltagskorruption - tatsächlich zerreißen.