Herbert Grönemeyer:
"Lauschig ist hier gar nichts"

Mit seinen 62 Jahren fühlt sich Herbert Grönemeyer gefordert wie noch nie. Die politisch unruhigen Zeiten sorgen dafür. „Tumult“ nennt er deshalb seine neue CD. Warum er aktuelle Krisen als Glücksfall betrachtet, erklärt er im Interview

von Interview - Herbert Grönemeyer:
"Lauschig ist hier gar nichts" © Bild: Antoine Melis/Universal Music

Sie haben als erstes Lebenszeichen Ihres neuen Werks das Lied „Sekundenglück“ gewählt. Beschreiben Sie doch einen Moment, in dem Herbert Grönemeyer „das Glück überschwemmt“, wie Sie singen.
Das ist zum Beispiel, wenn man sich mit sich eins fühlt. Wenn man denkt: „Ich hatte ­gerade noch Probleme, und die sind auch nicht weg, aber dieser Moment ist gerade schön.“ Wenn man schon ewig mit ­seinem Aussehen hadert und plötzlich vor dem Spiegel steht und sagt: „Na gut, so schlimm ist es gar nicht.“ Es sind diese Momente des Einsseins mit sich, die das Leben glänzen ­lassen. Die sind schnell wieder vorbei. Aber sie machen Mut, weil man weiß, das kommt immer mal wieder, also macht es Sinn, dass ich weitermache.

Die Liebeslieder auf dem Album „Tumult“ reiben sich stets an einem möglichen Ende. Gehört die Melancholie zur Liebe?
Die Sucht an der Liebe ist ja, sie so lange am Leben zu erhalten, wie es geht. Gleichzeitig weiß man um seine eigene Vergänglichkeit. Man weiß, wie schnell sich Gefühle verändern oder Einflüsse von außen etwas verändern oder der andere keine Lust mehr hat. Insofern geht es mir darum, dass man die Liebe zelebriert. Man selbst hat auch Launen und ist nicht immer gleich offen und bereit für den anderen. Dieses Hin und Her macht den Reiz aus. Man merkt auch manchmal am Partner: Oh, der findet mich heute nicht so toll. Diese Wehmut, die wir auch aus dem Blues kennen, schwingt immer mit, wenn man glücklich ist. Wehmut und Glück gehören zusammen.

In „Lebe mit mir los“ verarbeiten Sie den Faktor Zeit. Ist Zeit heute relevanter als früher?
Nein, gar nicht. Das ist der pragmatische Mensch aus dem Ruhrgebiet in mir. Der sagt: „Zier dich nicht, mach nicht auf ‚hard to get‘, lass dich einfach fallen, komm mir entgegen, ich mach hier nicht stundenlang den Hampelmann.“ Das war bei uns damals so üblich, dass man relativ schnell zur Sache kam, denn das Leben ist kurz. In ­Österreich kann man das gut nachvollziehen, denke ich.

Ihr deutsch-türkisch gesungenes Lied „Doppelherz/Ïki Gönlüm“ mit dem R-’n’-B-Sänger BRKN über die Bedeutung von Heimat löste Diskussionen aus. Warum war Ihnen diese Botschaft gerade jetzt wichtig?
Es löst keine Diskussionen aus! In meiner Kindheit im Ruhr­gebiet habe ich erlebt, wie in den 50er- und 60er-Jahren Menschen aus der Türkei, Spanien, Jugoslawien, Italien und Polen nach Deutschland gekommen sind. Und wie tierisch stolz wir damals waren, dass sie zu uns kamen. Die haben dieses Land mit aufgebaut. Jetzt wird diesen Menschen durch den Rechtsruck plötzlich mit Skepsis begegnet, und das geht einfach nicht.

Sie meinen die Skepsis gegenüber Fremden, die seit der Flüchtlingsbewegung zunimmt?
Ja, diese Skepsis ist gegenüber Schutzsuchenden genauso unangebracht wie gegenüber jenen, die schon lange hier leben. In der Flüchtlingsbewegung steckt ein großes Glück, weil sie uns daran erinnert, dass wir in der Lage sind, unsere humanistischen, ethischen Grundsätze zu leben. Dass wir helfen können, ist ein großer Schatz. Ich betreue selbst seit zwei ­Jahren eine Wohngemeinschaft von geflüchteten Minderjäh­rigen. Helfen zu können, sich ­dafür bewegen zu müssen, tut uns in unserer Saturiertheit gut. Dass Menschen Schwierigkeiten haben in diesen unruhigen Zeiten, ist klar, aber der Rechtsruck löst ihre Probleme nicht. Man kann in einer Demokratie sagen, was man nicht gut findet, aber man kann seine Frustration nicht an Menschen auslassen, die Schutz suchen.

© Antoine Melis/Universal Music „Die Momente des Einsseins mit sich lassen das Leben glänzen“

Es gibt auch jene, die meinen: „Aus dem Elfenbeinturm haben Künstler leicht reden.“ Wie involviert sind Sie in Ihr Flüchtlingsprojekt?
Wir haben eine Gruppe ein­gerichtet, mit der wir in die Flüchtlingsheime gehen, mit Flüchtlingen sprechen, nach ihren Bedürfnissen fragen und versuchen zu helfen. Dass Leute rumpöbeln, weiß ich, solange ich Musik mache. Das hat mich nie interessiert. Dass ist Teil meines Lebens als Künstler. Ich lebe auch gerne damit, dass mich Leute nicht mögen.

Einige, die Ihre frühen Alben toll fanden, wenden sich jetzt ab, hören Ihnen aber immer noch zu. Was möchten Sie jemandem sagen, der „Bochum“ oder „Sprünge“ geliebt hat und heute Ihren positiven Umgang mit der Flüchtlingsbewegung kritisiert?
Ich habe schon auf „Sprünge“ über die Überheblichkeit der Deutschen gesungen. Ich glaube, dass wir mehr denn je darauf achten müssen, dass unser Lebensklima für uns und un­sere Kinder lebbar bleibt und nicht von Menschen vergiftet wird, die meinen, sie müssen Ängste schüren, indem sie gegen andere hetzen. So gefordert waren wir noch nie. Jetzt muss die Gesellschaft lernen, dass sie Verantwortung trägt. Die kann man nicht immer nur auf die Politiker abwälzen.

Was soll die Gesellschaft, jeder Einzelne, denn Ihrer Meinung nach tun?
Man muss sich überlegen, wie wir lauter werden. Wie können wir gegen diese acht Prozent, die überall hetzen, bestehen? Wie schaffen wir es, dass diese Minderheit, die rumkrakeelt, niemandem mehr Angst machen kann? Man muss denen klar sagen: „Wir wollen das nicht! Wir sind eine offene Gesellschaft. Wir freuen uns, dass wir es so weit gebracht haben, und das wird noch besser.“ Jeder Einzelne ist aufgerufen, diese Richtlinien mit zu diktieren und sich nicht von Pöblern den Schneid abkaufen zu lassen. Aber das erfordert Haltung. Wir müssen immer wieder artikulieren, dass wir Hass nicht dulden. Denn hinter diesem Schüren von Angst steckt ein System: Angst lässt sich gut in­strumentalisieren.

Sie pflegen einen sehr gelassenen Umgang mit dem, was bei anderen zu Ängsten führt. Woher kommt Ihre Gelassenheit?
Es gibt einen schönen Satz von Gesine Schwan: Zum Mut gehört auch ein leichter Sinn. Wenn man sich politisch ­engagiert, kann das auch Spaß machen. Zudem halte ich die Gesellschaft für wirtschaftlich stabil und aufgeklärt genug, um mit dieser Krise fertigzuwerden. Menschen artikulieren im Rechtsruck ihre Sorgen um ihre Zukunft. Meine positive Haltung kommt daher, dass ich glaube, wir sind klaren Kopfes genug, uns gegen diese Rechtsbewegung zu stemmen. Das ist mein Vertrauen in die Gesellschaft, in unser fremdenfreundliches Denken. Das wird von 90 Prozent der Deutschen bestimmt, die in Umfragen ­gesagt haben, dass sie mit dem Zusammenleben mit Geflüchteten einverstanden sind. Darüber wird zu wenig gesprochen. In Deutsch­land kümmern sich sieben Millionen Menschen jeden Tag um Geflüchtete. Das ist sinnstiftend für eine Gesellschaft. Das ist der Tenor und nicht dieses wilde Gepöbel der Angst vor Überfremdung. Das gibt es und die sind laut, aber das ist nicht die Mehrheit. Und das muss man denen klarmachen. Deshalb bin ich guten Mutes.

Sie engagieren sich für die Seenotrettung, ein zuletzt vieldiskutiertes Thema, weil nur wenige der Geretteten nach der Genfer Konvention als verfolgt gelten. Dennoch bleiben viele dieser Menschen in Europa und dienen damit jenen, die den Fremdenhass schüren. Wie betrachten Sie die Komplexität dieses Themas?
Die ist mir bewusst. Aber keiner geht auf ein Boot und ist bereit zu sterben, weil er nichts Besseres zu tun hat. Dass diese Menschen gerettet werden müssen, ist doch klar. Ich sehe ja auch nicht zu, wenn hier am Kai ein Kind ins Wasser fällt, und lass es ertrinken. Wer ­darüber debattiert, Menschen als Warnung an andere ertrinken zu lassen, bei dem läuft im Kopf was schief. Das ist unterlassene Hilfeleistung und steht im deutschen Gesetzbuch unter Strafe. Was dadurch ausgelöst wird, ist ein anderes Thema. Es ist in Ordnung, darüber zu reden, was die Menschen auf Boote treibt, wie wir mit ihnen umgehen, was das auslöst, wie wir mit Schleppern umgehen. Alles richtig. Aber wenn Menschen in Seenot geraten, hat man die zu retten. Darüber kann ich nicht debattieren.

Der österreichische Innenminister Herbert Kickl wandte sich gegen den Begriff der Seenotrettung für Menschen, die durch Schlepper aufs Meer gelangen …
Diese Art der Verrohung in unseren Gehirnen muss man sich einmal überlegen! Es ist aber auch Anlass, sich selbst bei der Nase zu nehmen und zu fragen: Was nehme ich alles unhinterfragt hin? Wie schnell gewöhnt man sich daran, dass wieder 169 Menschen ertrunken sind? Das Lied „Fall der Fälle“ handelt davon. Die Gesellschaft muss eine moralische Grenze ziehen, sonst verroht sie. Das ist im Faschismus passiert, und wir sollten nicht so tun, als wären wir dagegen immun. Ich denke, der Widerstand gegen den Rechtspopulismus ist in Österreich ebenso Thema wie in Deutschland. Aber wir reden hier von langwierigen Prozessen. Die Gesellschaft muss Widerstand leisten, bis dieses Gedankengut wieder verschwindet. Das kann Jahre dauern, es erfordert Geduld und langen Atem.

Sie fühlen sich als Künstler aufgerufen, diesen Widerstand zu unterstützen. Wie wichtig sind Künstler diesbezüglich?
Es ist unsere Pflicht! Künstler sitzen ja tagsüber zu Hause, während andere Menschen arbeiten. Künstler kümmern sich darum, was in der Atmosphäre an Gedanken herumfliegt, und dann schreiben sie ein Buch, ein Gedicht, ein Lied oder malen ein Bild. Das ist unser Job. Wir sind Teil der Gesellschaft, um zu artikulieren, was viele Menschen denken oder beängstigend finden. Ich betrachte Künstler als Trommler für jene Leute, die täglich versuchen, die Gesellschaft zu verbessern. Wir müssen denen Mut machen, durchzuhalten. Wir sind keine besseren Menschen, auch nicht klüger als andere. Aber während andere hart arbeiten, ist es unser Job, uns Gedanken zu machen und eine Haltung stoisch durchzuziehen, wenn das Klima in der Gesellschaft ins Wanken gerät und stabilisiert werden muss. Dabei muss man aufpassen, dass man sich nicht den Schneid abkaufen lässt. Sobald die Kultur einknickt, geht eine Gesellschaft nach rechts.

Als jemand, der lange in London gelebt hat: Haben Sie Sorge um die EU nach dem Brexit?
Natürlich mache ich mir Sorgen. Man braucht nicht zu denken, ich mache jetzt ein fröhliches Album und mir keine Gedanken. Natürlich ist der Brexit wie ein Präsident Trump ein gefährliches Zeitphänomen. Aber der Brexit ist auch nichts anderes als der Ausdruck des Unmuts der Engländer über den Zustand ihres Landes. Viele haben gedacht, das ist so unwahrscheinlich und albern, das passiert eh nicht. Dieser Glaube hat sich gerächt. Man muss schon etwas tun, wenn man etwas bewegen will, zum Beispiel zu einer Abstimmung ­gehen. Nachdenken. So, wie ich die Jugend sehe, meine Kinder, glaube ich an Europa. Sie denken nicht mehr deutsch oder nationalspezifisch, sie denken, Europa ist ihr Land.

Sie stellen die Frage: „Wie verbreitet sich der Mut des Herzens? Wie enteilt man der Raserei?“ Haben Sie eine Antwort gefunden?
Mich stärken die Menschen, die zu ihrem aufgeklärten Denken stehen, die sich mit Mitgefühl um andere kümmern, und da geht es nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch Alters­armut und Kinderarmut. Wir lernen wieder hinzusehen und uns zuständig zu fühlen. Wir lernen, dass wir eine soziale Revolution brauchen, weil an der Umverteilung der Gelder etwas nicht stimmt. Wir waren im Tiefschlaf und wachen jetzt auf. Jetzt geht es darum: Wie gehen wir mit dieser Situation um? Da machen mir die Menschen Mut, die sich nicht abbringen lassen zu helfen, und davon kenne ich genug.

Ihr Albumtitel „Tumult“ fasst unsere aktuell unsichere Zeit zusammen, nicht?
Absolut, ich laufe ja nicht blauäugig rum. Nein, lauschig ist hier gar nichts. Mit meinen 62 Jahren kann ich sagen, ich habe mich noch nie so gefordert gefühlt. Wir waren gewohnt, alles auf die Regierenden zu schieben. Nun müssen wir selber ran. Jeder muss mit sich klären, was das für ihn persönlich bedeutet, und zwar schnell. Leider neigen wir zu Angst, statt zu sagen: Wie lösen wir das Problem? Im angelsächsischen Raum ist das anders. Dort stellt man sich Pro­blemen und sucht eine Lösung. Hier diskutiert man lange darüber, was die Auswüchse des Problems sind, bis man keine Kraft mehr hat, eine Lösung zu finden. Wir sind in der Lage, damit umzugehen, aber wir müssen dazulernen wie wir uns aufraffen, und Haltung ­zeigen und Widerstand.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der Printausgabe 45 2018

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