Reed Hastings: Der
Mann hinter Netflix

Im Kampf der Streamingdienste hat Netflix-CEO Reed Hastings noch immer die Nase vorn. Sein Erfolgsgeheimnis ist Führung ohne Regeln, die ohne Vorgaben jeden zur Höchstleistung treibt.

von Imperium - Reed Hastings: Der
Mann hinter Netflix © Bild: imago/Kyodo News

Seine Grundregel lautet: keine Regeln! Er ist selten im Büro anzutreffen, er hat gar kein eigenes. Lieber steuert Netflix-Boss Reed Hastings sein Milliardenunternehmen aus dem Homeoffice im kalifornischen Küstenstädtchen Santa Cruz.

Dort lebt der 60-Jährige mit seiner Frau Patty Quillin, zwei Kindern, fünf Hühnern, vier Hunden und zwei nigerianischen Zwergziegen. Sechs Wochen Urlaub im Jahr zu machen hält er - ganz entgegen US-amerikanischem Usus - für wichtig. Dasselbe gilt übrigens auch für seine Mitarbeiter. Hastings gewährt unbegrenzten Urlaub. Seine Richtlinie für die Obergrenze von Spesen ist die Aufforderung "Handle im Interesse von Netflix".

»Unsere Mitarbeiter sind es gewohnt, selbst zu denken«
© imago/ZUMA Press

Was Hastings zur Unternehmenskultur von Netflix erhoben hat, klingt selbst für Silicon-Valley-Maßstäbe seltsam. Doch gerade so ermöglichte er seinem Onlinevideohandel den Aufstieg zur globalen Nummer eins aller Streamingdienste. Beispiel gefällig?

Als Programmchef Ted Sarandos um 100 Millionen Dollar zwei Staffeln einer Serie kaufte, tat er dies, ohne den Chef zu informieren oder um Erlaubnis zu fragen. Nicht notwendig. "Unsere Mitarbeiter sind es gewohnt, selbst zu denken. Sie organisieren sich selbst und warten nicht darauf, dass das Management ihnen Vorgaben macht", erklärte Hastings jüngst dem "Handelsblatt".

Der Chef, der nichts anschafft

Die Serie hieß "House of Cards" und markierte die Geburtsstunde der Gramm y und oscarnominierten Netflix-Eigenproduktionen. Mit Sarandos' Entscheidung begann der Streamingdienst, die Regeln des Fernsehens neu zu schreiben, und band seine Abonnenten mit erstklassigen Inhalten an sich.

Auch interessant: Netflix-Codes - Geheimfunktion schaltet versteckte Filme frei

Im Kampf um Marktanteile -der aktuell durch die Übernahme des legendären James-Bond-Studios MGM durch Amazon Prime befeuert wird -ist Netflix global gesehen noch immer der Platzhirsch.

Im ersten Quartal 2021 stammten laut Branchendienst Parrot Analytics über die Hälfte aller weltweit konsumierten Eigenproduktionen von Netflix (Amazon Prime lag bei 12,2 Prozent, Disney bei sechs Prozent). Im Jahr 2021 plant Sarandos Ausgaben für Inhalte im Ausmaß von 17 Milliarden Dollar. Seit einem Jahr fungiert er als Co-CEO neben Hastings.

© imago/Future Image International

Das Erfolgsrezept ist gleich geblieben. "Die Gefahr liegt nicht darin, ein Risiko einzugehen. Gefährlich ist es, nichts zu riskieren und die jüngste Entwicklung zu verpassen", formulierte Hastings seine Einstellung vor wenigen Monaten gegenüber "Vanity Fair". Der CEO ist bekannt dafür, selbst keine Entscheidungen zu treffen. Er überlässt sie den Mitarbeitern.

"Führen durch Kontext, nicht durch Kontrolle", lautet sein Motto. Entscheidungshilfe liefert er durch eine halbe Stunde pro Jahr, in der er mit jeder seiner 500 Top-Führungskräfte über das Wirken und die Zukunft von Netflix spricht.

Das Netflix-Rezept zum Nachlesen

Die Zusammenfassung von Hastings' Gedankenwelt in Buchform "Keine Regeln. Warum Netflix so erfolgreich ist" avancierte längst zur Bibel der Start-up-Szene. Neben Merksätzen wie "Suche Meinungen, die dir widersprechen" und "Feiere deine Fehler" offenbart das Buch auch den Preis für die grenzenlosen Urlaubstage. "Ausreichende Leistung wird mit einer großzügigen Abfertigung belohnt", heißt es darin. Anders gesagt: Wer nicht Großartiges leistet, ist draußen.

Buchtipp

Keine Regeln: Warum Netflix so erfolgreich ist*

*Die mit Sternchen (*) gekennzeichneten Links sind sogenannte Affiliate-Links. Wenn Sie auf einen Affiliate-Link klicken und über diesen Link einkaufen, bekommt news.at von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis nicht.

Auf diese Werte kommt es an

Sämtliche Säulen der Unternehmenskultur finden sich freilich auch in Hastings' legendärem "Netflix Culture Deck". Dabei handelt es sich um ein Wertegerüst auf 127 Folien, die der CEO ursprünglich für den internen Gebrauch erstellt hatte. 2009 stellte er sie ins Internet und bekam umgehend Lob von Facebook-COO Sheryl Sandberg, die sie als "wichtigstes Dokument, das je im Silicon Valley verfasst wurde", bezeichnete.

»Harte Arbeit ist nicht direkt relevant. Es geht um Effektivität«

Neben viel Eigenverantwortung macht das "Culture Deck" auch das Leistungsprinzip deutlich. "Harte Arbeit ist nicht direkt relevant. Es geht um Effektivität. Mitarbeiter werden nicht an den Wochenenden gemessen, die sie im Büro verbringen, sondern daran, wie rasch, wie
umfangreich und wie gut sie ihre Arbeit erledigen", so eine der Folien. Hastings fordert Kritik, kann sie auch nehmen und pflegt einen Führungsstil, den Mitarbeiter als "unbeeinflusst von Emotionen" höflich umschreiben.

Zum Mutholen nach Swasiland

Die Härte zu sich selbst, Risikofreude und Mut halfen Hasting schon beim Leben in Afrika und über den Verlust seiner ersten Firma hinweg. Der Sohn des Rechtsanwalts Wilmot Hastings, Ministeriumsmitarbeiter der Ära Nixon, genoss seine Ausbildung an der Privatuniversität Bowdoin College und schloss ein Mathematikstudium ab. Noch heute bezeichnet er sichgern selbst als "mathematisch denkenden Softwareingenieur".

Diese Zeit prägte Reed Hastings

Nach dem Schulabschluss diente Hastings für zwei Jahre im Friedenscorps, die er als Mathematiklehrer in Swasiland verbrachte. Eine der Anekdoten, die er gern von damals erzählt, führt zu der Erkenntnis: "Sobald man mit zehn Dollar in der Tasche durch Afrika gereist ist, kommt einem meine Unternehmensgründung nicht mehr ganz so unmöglich vor." Dennoch ging er nach der Rückkehr in die USA wieder zur Universität und absolvierte 1988 ein Masterstudium in Computerwissenschaften.

© imago/Belga

Nach drei weiteren Jahren bei einer Softwarefirma wagte er die Gründung seines ersten Unternehmens Pure Software, mit dem er Werkzeuge zur Softwarefehlerbehebung entwickelte. Das Unternehmen florierte, Hastings kaufte eine andere Firma auf und behielt alle neun Mitarbeiter. Mit deren Chef Marc Randolph formte er eine zukunftsweisende Freundschaft.

Einmal im Monat zum Keeper Test

Als wenig später Hastings' Firma aufgekauft wurde, verloren sowohl er als auch sein Freund Randolph ihre Jobs. Die beiden suchten nach einer Idee für ein E Commerce Geschäftsmodell. Man schrieb das Jahr 1997, die Hochblüte der DVDs.

So kam ihm die Idee zu Netflix

Angeblich kam Randolph die Idee zu Netflix, als er bei seiner Videothek 40 Dollar Strafe wegen überschrittener Leihfristzahlen musste. Er und Hastings gründeten den heutigen Streaminggiganten als Onlinevideothek, die ihren Kunden zur Flatrate mit der Post DVDs zustellte. Die Idee boomte und Marktgrößen wie der Videoverleih Blockbuster verschliefen die Entwicklung.

Als Hastings Blockbuster drei Jahre später 49 Prozent von Netflix zum Kauf anbot als Onlineerweiterung des Videothekengeschäfts , sagte der Videoverleih noch lachend ab. Fünf Jahre später, 2005, hatte Netflix 4,5 Millionen Abonnenten. Nach fünf weiteren Jahren war Blockbuster bankrott und Netflix hatte mit 12.000 Titeln im Angebot begonnen, Filme zu streamen. Der Rest ist Erfolgsgeschichte.

»Nur weil jemand einen Elfmeter verschießt, fliegt er nicht gleich aus der Mannschaft«

Wie der leistungsorientierte Manager mit seinem Programmchef Sarandos verfahren wäre, hätte der mit dem 100 Millionen Dollar Investment in "House of Cards" einen Flop produziert? "Nur weil jemand einen Elfmeter verschießt, fliegt er nicht gleich aus der Mannschaft. Den Keeper Test hätte er trotzdem bestanden", so Hastings.

Besagter "Keeper Test" zählt zum Ausleseverfahren, das der CEO seinen Führungskräften monatlich empfiehlt: Sie sollen für jeden Mitarbeiter überlegen, wie sehr sie um ihn kämpfen würden, wenn er kündigen würde. Würden sie ihn um jeden Preis halten wollen? Nein? Dann war's das wohl besser.