"Das Handy ist
ein Dopamin-Dealer"

Tipps gegen digitalen Burnout: Digital-Therapeutin Anitra Eggler im Interview

88 Mal. So oft schauen wir im Schnitt aufs Handy. Das führt dazu, dass wir damit nicht nur unseren Alltag, sondern auch unsere Aufmerksamkeit zerstückeln. Das kann bis zum digitalen Burnout führen. Muss aber nicht sein. Digital-Therapeutin und Bestseller-Autorin Anitra Eggler kennt sich mit dem digitalen Irrsinn im Alltag aus. Und noch wichtiger: Wie man diesem Irrsinn entkommen kann.

von Digital Detox - "Das Handy ist
ein Dopamin-Dealer" © Bild: Shutterstock

Sie wirken ja bis auf die hektische Parkplatzsuche vorhin gut gelaunt und sehr relaxt. Wie oft haben Sie heute auf Ihr Handy geschaut? Oder E-Mails gecheckt?
Das kann ich jetzt gar nicht so genau sagen. Müsst ich jetzt schätzen, keine Ahnung, vielleicht sechs Mal?! E-Mails gecheckt hab ich heute noch gar nicht. Was ich immer mache: Ich hab mein Handy im Flur liegen auf einer Ablage. Das heißt, dass ich morgens offline in den Tag starte. Man muss ja diese Rituale brechen. Die meisten Leute schlafen mit dem Handy neben dem Bett, das ist für mich absolutes Tabu, mein Handy hat Bettverbot. Man merkt ja gar nicht, wie sehr einen das stresst, wenn man morgens schon auf Wetter-App, WhatsApp und E-Mail völlig reaktiv in den Tag startet.

»Man muss auch einen Offline-Urlaub gemacht haben um festzustellen, dass die Welt nicht untergegangen ist.«

Sie waren ja eigentlich Ihr erster Patient. Wie lange haben Sie gebraucht, um aus diesen Ritualen auszubrechen? Was war am schwierigsten für Sie?
Erstmal glaube ich, dass es nie aufhört. Man ist nie fertig. Das Internet und alles Digitale ist so „Perpetual Beta“. Man kann Dinge immer noch besser machen. Ich selbst habe so vom Hardcore Handy-, Internet- und Informations-Junkie für eine erste Erleichterungsstufe rund drei Monate gebraucht. Das kann bis zu einem halben Jahr dauern, da muss man auch einen Offline-Urlaub gemacht haben, um festzustellen, dass die Welt nicht untergegangen ist.

Die schwierigsten Dinge sind tatsächlich sowas wie die Rückkehr zur Trennung von Arbeit und Freizeit. Dass man wirklich nach Hause kommt und abschaltet, und zwar abschaltet vom Job. Und nicht - nur weil es medienmöglich ist - einfach doch nochmal anfängt während oder nach dem Abendessen Mails zu checken. Dieses Abschalten ist schwierig.

Stichwort E-Mail-Öffnungszeiten: Sie geben in Ihren Büchern viele Tipps, die sich in manchen Positionen oder Berufen nur schwer bis gar nicht umsetzen lassen. Sind manche Berufsfelder gar nicht mehr zu „detoxen“?
Wenn man in einer Telefon-Hotline arbeitet, kann man schwer Telefon-Öffnungszeiten einführen. Arbeitet man mit einem E-Mail-Kundenservice geht das auch nicht. Wenn Sie Börsenbroker sind, dann geht das auch nicht. Natürlich gibt’s Berufe, wo das nicht umsetzbar ist, aber das sind vielleicht fünf Prozent. Bei allen anderen, die das sagen – und Journalisten sind die ersten – da sag ich: „Du bist einfach zu faul das zu ändern“.

Ansonsten ist es wichtig, dass man ein gutes Informationsmanagement für sich selbst hat. Da greift der digitale Segen mit entprechenden Tools oder den richtigen Einstellungen. Wenn man sich Zeit nimmt zu überlegen, was man braucht. Das dauert zwar zwei, drei Stunden und man muss es immer wieder nachjustieren, aber da hat man schon mal einen richtig guten Filter.

Was für ein Smartphone verwenden Sie?
Immer das neueste iPhone, wobei ich glaube, dass nicht mehr so viel Innovation nach Steve Jobs kommen wird. Keine Ahnung. Ich nutze Apple seitdem es diese Dinge gibt, aber im Prinzip wählt man zwischen Pest und Cholera - ich habe mich eben für die Pest entscheiden.

»Ich bin nicht Sklave des Geräts, sondern nutze es für die Dinge, die ich brauche.«

Braucht man also kein altes Handy-Modell aus dem „Prä-Smartphonium“ um sich digital zu detoxen?
Ich hab’s nie gebraucht, aber ich bin schon auf einem Level, wo es mir gleichgültig ist, wo mein Handy liegt. Ich bin nicht Sklave des Geräts, sondern nutze es für die Dinge, die ich brauche. Als Detox-Maßnahme ist der Griff zu einem alten Handy und weg vom Smartphone absolut super. Ist auch edgy und trendy. Je älter das Telefon, desto besser. Das würde ich auch mal Journalisten oder anderen Hardcore-Informationsberufen empfehlen.

Sie sind ja versiert und kennen sich mit Ihrem Gerät aus. Aber der Clou von Apple ist ja vorwiegend Leute anzulocken, die sich wenig mit Technik auskennen (wollen). Und diese Leute nehmen hin, unbemerkt Daten herzugeben.
Das ist ja das Fatale. Die intuitive Bedienbarkeit vom iPhone zB, aber auch generell von Smartphones lässt Menschen in der Regel nie über die "Idioten-Funktionen" hinauskommen. Zusätzlich nehmen sie alle Datenstaubsauger und Datenklaufunktionen, die im Interesse des Herstellers und maximal zu seinem Vorteil konfiguriert sind, klaglos hin. Das ist eine Katastrophe.

Dabei gibt es so großartige Tutorials. Auf YouTube gibt es eine Tonne Tutorials. Ich bitte Leute immer in meinen Vorträgen, sich eine Stunde Zeit dafür zu nehmen. Sind sie dafür zu faul, sollen sie sich wenigstens selbst belügen und alle Apps auf den letzten Screen des Bildschirms verschieben, die etwas Neues auf den Startbildschirm bringen. Einfach, damit die Ablenkung von der Startseite weg ist.

Lesen Sie sich die AGBs von jedem neuen Gerät oder Update durch?
Aus Ehrgeiz, ja. Ich spreche immer von Ausnutzungsbedingungen. Wir sind ja alternativlos: Wenn ich den Ausnutzungsbedingungen von Apple nicht zustimme, kann ich das Gerät nicht verwenden.

»Es braucht Beipackzettel für Apps, ein Ampelsystem«

Das ist ja auch eine Art Friss-oder-Stirb-Modus…
Trotzdem sollte ich wissen, was passiert. Da dürfen wir nicht faul sein. Als ich mein Buch „Mail halten!“ recherchiert habe, hab ich mir genau das vorgenommen. Ich habe mir angeschaut, wie lange man braucht, um die Packungsbeilage von Opium zu lesen. Das ging in Sekunden. Wie lange braucht man aber, um die AGBs von Facebook zu lesen? Eine Stunde!

Das ist etwas, wo ich sage: „Leute, wir brauchen die Politik!“ Es braucht Beipackzettel für Apps, ein Ampelsystem. Wir brauchen etwas, wo der dümmste anzunehmende User – und das sind wir irgendwie alle – auf den ersten Blick sieht, dass die App beispielsweise gratis ist, dh. man zahlt mit seinen Daten. Zum anderen muss man sich eingestehen, was man sehr gut auch so formulieren kann: „Wo smart draufsteht, ist Überwachung drin. Und wo smart draufsteht, ist auch ein Datenbagger drin.“

Wieviel digitale Dosis ist ihrer Ansicht nach verträglich? Und wieviel ist zuviel?
Es geht ja nicht darum, zwangsläufig weniger on- und mehr offline zu sein. Es geht darum, besser online und offline zu sein. Das war die gute Nachricht. Die schlechte: Beides macht Arbeit. Man muss den Weg dahin finden und man muss sich damit auseinandersetzen, sich selbst fragen: „Was ist eigentlich gut für mich?“.

Die richtige Dosis muss, glaube ich, muss jeder für sich selbst finden. Die Überdosis ist natürlich leicht festzustellen. Man muss morgens einfach nur mal ohne Handy aus dem Haus gehen und schauen, ob man den Tag überlebt. Viele Menschen werden zurückgehen und ihr Handy holen.

Die nächste Empfehlung von Ihnen, das als Selbstversuch zu starten?
Unbedingt. Das kann man auch mal an einem Samstag machen. Einfach mal einen Tag ohne Handy erleben und sich selbst beobachten. Bekommt man einen eingebildeten Vibrationsalarm? Man wird merken, es ist ein bisschen ähnlich wie beim Rauchen: Alle 11 bis 15 Minuten bekommt man einen Impuls, wo man sein Handy checken möchte.

»Das Handy ist ein Dopamin-Dealer«

Phantomschmerzen quasi?
Ganz genau. Viele Leute werden das nicht aushalten. Da merkt man erst, wer wen im Griff hat. Es ist wichtig zu begreifen, dass das Handy ein Datenbagger und Dopamin-Dealer ist. Es zielt auf Aufmerksamkeit und Dauerablenkung ab.

Unsere Gehirne sind schon darauf programmiert, dass das normal ist. Deswegen fällt der Entzug auch so schwer, weil unser Hirn diese Dopamin-Duschen fordert. Und es ist witzig bis recht grässlich zu merken: „Hoppla, mobile Freiheit hab ich mir anders vorgestellt. Das ist eigentlich digitale Leibeigenschaft.“

Es gibt seit geraumer Zeit diese Do-it-yourself-Welle, die sehr stark präsent ist. Glauben Sie, dass das vom digitalen Ich befeuert wird oder dass es eher eine Flucht davor ist?
Es ist sicher ein ernstzunehmender Gegentrend. Kann man in vielen Bereichen feststellen und find ich gut, weil es uns die Erdung ein bisschen zurückgibt. Das war die gute Nachricht.

Die Möglichkeit, dafür auch noch eine Ego-Dusche zu bekommen, indem man öffentlich geliket wird, ist teilweise aber schon wieder absurd. So absurd wie etwa Leute, die am Strand liegen und als Allererstes ein Foto von sich posten und dazuschreiben, wie entspannt sie seien.

Sie würden die DIY-Welle also schon über ihren medialen Egoboost stellen?
Klar, das ist ja das, was der Mensch am meisten mag: Aufmerksamkeit. Und deswegen funktionieren die Netzwerke so super, weil uns diese automatisierten Belohnungssysteme damit anfixen. Wir posten was und werden gelobt.
Bei Essen find ich es allerdings fehl am Platz, weil ich glaube dass viel Genuss verloren geht, durch den zwanghaften Reflex , schönes selbstgekochtes Essen zu posten.

Digitales Ich und reales Ich - Lässt sich in Einklang bringen?
Unbedingt. Man muss. Wir werden doch sonst nur schönwettergefärbte Filter-Ichs. Abziehbilder. Wir werden unsere Selfie-Doppelgänger. Wie eklig ist denn das?!

Wie sieht eigentlich eine Welt aus, in der alle Leute ihre Ratschläge befolgen? Kann man das ein bisschen mit Biedermeier vergleichen?
Nein, nein, nein. Sie meinen totalen Rückzug ins eigene Stübchen?

»Man sollte sich nicht dem Trugschluss hingeben, dass Reichweite und Quantität von Followern und Likern Freunde ersetzen können«

Genau, aber nur unter Anführungzeichen. In erster Linie, dass man wieder lernt, hohen Wert auf Privatsphäre zu legen, sich auf die Zeit mit den Liebsten zu besinnen und genau darauf zu schauen, öffentlichen Spionen keine Daten zu schenken…
Also in gewisser Weise lebe ich so, könnte man sagen. Und gleichzeitig versuche ich aber auch die Vorzüge der digitalen Bohème zu nutzen. Ich glaube, wir brauchen genau so einen Zwitter aus Biedermeier und digitaler Bohème. Das heißt, klug in der Anwendung digitaler Dinge und auch in der Auswahl. Es gibt ja auch viele gute Sachen, zB. Crowdfunding. Oder auch im Bereich Spenden und Medizin. Und die zu kennen und für sich nutzen zu können, ist ja eine absolute Bereicherung.

Gleichzeitig sollte man sich aber auch glücklich schätzen, wenn man im Leben fünf Menschen hat, die einem Geld leihen würden oder Ehebruch decken. Dass man die dann Freunde nennen kann. Man sollte sich nicht dem Trugschluss hingeben, dass Reichweite und Quantität von Followern und Likern sie ersetzen können.

Zweckoptimismus und Detox in Ehren: Ist es nicht schon längst zu spät?
Es ist ganz sicher in vielen Bereichen 6 nach 12. Wenn man aber nicht versucht etwas zu ändern, muss man später seinen Enkeln erklären können, warum man nichts getan hat, obwohl man hingeguckt hat. Das ist meine Motivation etwas dagegen zu tun. Es kann aber auch nicht sein, dass so viele intelligente Menschen die Augen verschließen und sich in so einem mächtigen Lebensbereich so naiv verhalten.
Ich merke auch, dass es eine Gegenbewegung gibt, dass sie auch stärker wird, dass immer mehr Menschen aufwachen. Und dass auch Themen, die medial unsexy sind, wie Datenschutz, offen angesprochen werden. Das gibt mir Hoffnung.

Glauben Sie, dass sich auch hier eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft bilden wird?
Eigentlich sogar eine Drei-Klassen-Gesellschaft. Zu denen, die alles hinnehmen und denen, die sich wehren, kommen auch noch diejenigen, die am digitalen Leben gar nicht teilnehmen. Viele alte Menschen fallen ja jetzt schon aus dem Rad. Die können zB. kein Online-Banking mehr machen. Es wird immer mehr Funktionen des täglichen Lebens geben, die man ohne grundsätzliche digitale Kompetenz nicht mehr ausüben kann. Das finde ich sehr schwierig und eine große Herausforderung

© Andreas Jakwerth

Zur Person: Anitra Eggler ist deutsche Journalistin, Autorin und Vortragsrednerin. Bekannt wurde die Wahlwienerin durch ihr Buch "E-Mail macht dumm, krank und arm – Digitaltherapie für mehr Lebenszeit". Eggler hat den Begriff der "Digitaltherapie" für ihre Bücher und Auftritte erfunden. Ihr aktuelles Buch heißt "Mail halten! Die beste Selbstverteidigung gegen Handy-Terror, E-Mail-Wahnsinn und digitale Dauerablenkung" und gibt über 100 Tipps, wie man aus der digitalen Leibeigenschaft entkommt.