Aufsperren, wenn alle
anderen zusperren

Die Wirtschaft ächzt, die Aussichten sind trüb. Trotzdem ist die Zahl der Unternehmensgründungen im Corona-Jahr 2020 gestiegen. News hat Unternehmer getroffen, die in den letzten Monaten einen Neuanfang gewagt haben - vom Gastronomie-Großprojekt bis zum kleinen Stoffgeschäft

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© Bild: Ricardo Herrgott/News

Auf einmal, mitten im dritten Lockdown, stand ein Christbaum in diesem verwaisten Geschäftslokal in der Wiener Heinestraße, in dem früher eine "Saunabar" eingemietet gewesen war. Einfach so. Ohne Kommentar. Ein erster Gruß an die Nachbarschaft. Anfang Jänner eröffnete dann die "Sattlerei". Vorerst als überdimensionaler Feinkostladen und Vinothek. Dann, irgendwann, wenn die Gastro auch wieder darf, als Restaurant und Weinbar. Das Beispiel zeigt: In Corona-Zeiten wird nicht nur zu - sondern auch aufgesperrt.

Tatsächlich gab es 2020 so viele Neugründungen wie noch nie, die Wirtschaftskammer verzeichnet ein Plus von 1,2 Prozent -trotz Krise. Christiane Holzinger, Bundesvorsitzende der Jungen Wirtschaft, erklärt das so: "Die Leute haben den ersten oder zweiten Lockdown benutzt, um ihre Ideen zu Papier zu bringen und an den Konzepten zu feilen. Jetzt sind sie reif, damit auf den Markt zu gehen. Wer seine Zukunft in der Selbstständigkeit sieht und eine gute Idee hat, lässt sich eben nicht so einfach abbringen." Viele Projekte seien schon länger geplant gewesen und werden trotz der Umstände jetzt umgesetzt, sagt Holzinger: "Wer mitten in der Krise gegründet hat, fühlt sich von der Krise sogar weniger betroffen, weil er oder sie das Risiko einer krisenhaften Entwicklung von vornherein einkalkuliert. Sprich: Unternehmensgründer gehen davon aus, dass die erste Zeit so oder so schwierig wird. Deshalb haben 66 Prozent trotz der Pandemie an ihrem Zeitplan festgehalten."

© Ricardo Herrgott/News Gabriel und Alena Maruscak eröffneten ihr Geschäft im Dezember

Das Projekt "Sattlerei" läuft seit gut zwei Jahren. Damals beschlossen der Banker Jürgen Sattler und seine Frau Michaela, dass es Zeit war für einen Neubeginn. "Weihnachten vor zwei Jahren war ganz klar, jetzt ist Schluss. Träume sind da, um gelebt zu werden, und nicht, um weiter fortgeschrieben zu werden. Wir lieben es, Dinge aufzubauen. Und das tun wir jetzt einmal die nächsten fünf bis zehn Jahre." Eigentlich war etwas Kleineres geplant, doch dann verliebte sich das Paar, auch privat leidenschaftliche Gastgeber, in das 350-Quadratmeter-Lokal in der Heinestraße. Nach sorgfältiger Planung und anschließender Renovierung sollte eigentlich im Dezember eröffnet werden. Der großzügige Restaurantbereich, die Weinbar im ehemaligen Foyer, der Chef's Table im Mühlfeldgassen-seitigen Flügel, die große offene Küche dazwischen. Jetzt hängt das Projekt in der Warteschleife: Das Kernteam, Sattlers und Schwiegersohn Lewis Emerson, der Küchenchef, bespielen das derzeitige Provisorium. 17 rekrutierte Mitarbeiter warten, beim AMS gemeldet, auf die Erlaubnis, loszulegen.

Besonders schwierig für die Jungunternehmer: Als Neugründung haben sie keinen Anspruch auf staatliche Hilfen. Er habe volles Verständnis für die Maßnahmen der Regierung, sagt Sattler, aber es müsse irgendeine Form von Kompensation geben. "Wir sind neu dabei, wir haben eine Mörderkohle investiert, strecken uns nach der Decke und gehen leer aus. Da stimmt etwas nicht." In einem offenen Brief fordert er Kanzler Sebastian Kurz dazu auf, nicht auf die jungen Unternehmer zu vergessen: "Wir mögen vielleicht eine kleine und überschaubare Gruppe sein, eine Gruppe die sich nicht organisiert und keine Lobby, wie zum Beispiel die Liftbetreiber, hinter sich vereint, aber dennoch sind wir hier."

Einstweilen knüpft die "Sattlerei" als Feinkostladen und To-go-Verköstiger erste zarte Bande in die Nachbarschaft. Später soll sie zu dem Lokal werden, das Jürgen und Michaela Sattler als Gäste selbst immer suchen und selten gefunden haben: "Es geht um Emotion, es geht um Erlebnis. Du sollst hier genießen können und dir beim Hinausgehen denken: Wie geil war das. Und am besten, du weißt gar nicht, warum, es ist dir einfach passiert, du bist einfach inspiriert worden, egal, ob von den Speisen, den Getränken, dem Service oder dem Ambiente." Die Corona-Krise, meint Sattler, berufsbedingt selbst ein ehemaliger Vielreisender, berge auch Chancen. Die Themen Nachhaltigkeit, Regionalität und Saisonalität könnten aufgewertet werden. Die Gesellschaft sich zum Besseren verändern. "Man wird nicht mehr dieses Wochenende nach London und nächstes Wochenende nach Stockholm fliegen müssen, um glücklich zu sein. Man wird erkennen, dass diese sinnlose Mobilität einfach nicht lebensnotwendig ist."

Tatsächlich ist was dran, an dem alten Spruch von den Krisen und den Chancen. Es sei kein Zufall, sagt Christiane Holzinger von der Jungen Wirtschaft, "dass Airbnb, Uber, Zalando und der Bitcoin nach der Finanzkrise 2008 gegründet wurden. Krisen wirbeln traditionelle Verhältnisse durcheinander und stellen alte Gewohnheiten auf den Kopf. Da ist die Bereitschaft der Kunden groß, neue Wege zu gehen. Und es fällt leichter, den alten Platzhirschen Marktanteile abzujagen. Die Kreativität wird mit Sicherheit auch stärker angekurbelt, dort, wo wir müssen, agieren wir oft ernsthafter." Außerdem, meint Holzinger, seien 2020 alle gezwungen gewesen, genauer hinzuschauen, "unsere Geschäftsmodelle zu hinterfragen, Kernwerte unserer Unternehmen zu analysieren, digitaler zu werden, Kosten genauer zu hinterfragen und vor allem unser Team und Netzwerk fokussierter zu führen".

Alles auf eine Karte

Der 16. Dezember verlief nicht ganz so, wie Alena Maruscak ihn sich erträumt hatte. Endlich, nach monatelanger Planung, konnten sie und ihr Mann Gabriel ein neues, größeres Modegeschäft im niederösterreichischen Götzendorf eröffnen. Doch statt rauschendem Prosecco-Empfang Maruscaks verstehen es, zu feiern gab es nur fades Herumgestehe mit Maske. Und, gut eine Woche nach der Eröffnung, den nächsten Lockdown. Und dann noch eine Verlängerung des Lockdowns. "Damit hatten wir wirklich nicht gerechnet", sagt Alena Maruscak. Sie betreibt seit zehn Jahren ein kleines Geschäft in Schwadorf, ebenfalls südöstlich von Wien, Bezirk Bruck an der Leitha, in dem sie zunächst handgemachte Taschen, dann Mode anbot. Seit etwa einem Jahr steht fest: Sie will erweitern. Im Februar 2020 gab Gabriel Maruscak seinen Job bei einer Werbeagentur auf, um seine Frau zu unterstützen. Und dann kam Corona.

"Wir haben hin und her überlegt. Es ist uns versichert worden, so einen Lockdown wird es nie wieder geben. Wir haben wirklich nicht daran geglaubt, dass die Geschäfte noch einmal geschlossen werden. Das war schon ein Schock. Mein Mann hatte seinen Job gerade gekündigt. Auf einmal saßen wir beide im gleichen Boot." Dennoch beschlossen sie, dranzubleiben: "Ich bin eine Visionärin, ich glaube immer an das Gute und daran, dass es einen Weg gibt. Wir haben den Vertrag also unterschrieben und im September mit den Umbauarbeiten begonnen."

Seit einigen Tagen darf Alena Maruscak ihre Kundinnen im "Fabric Face" wieder persönlich begrüßen. Höchste Zeit, meint sie. Denn der hängt voller Frühlingsware, die das Paar vor zwei Wochen in Italien eingekauft hat. Pastellfarbene Lederjacken, leichte, lange Sweater, Übergangskleidung eben, die sich bei höheren Temperaturen nicht mehr verkauft und rasch an Wert verliert. Die Zuschüsse decken gerade das Notwendigste, Miete, Strom, da ist von Einkauf, Gewinn oder Investitionen noch keine Rede. Im ersten Lockdown rettete sich die Familie mit Maskenproduktion über die Runden, erzählt Alena Maruscak: "Gabriel hat zugeschnitten, die Kinder haben eingepackt, ich habe ganze Nächte durchgenäht. Das Interesse war riesig. Wir haben uns manchmal zum Interspar gestellt und Masken verkauft. Das war unsere Rettung." Aber nach drei Wochen mit vier Stunden Schlaf war klar: "Ich kann nicht mehr."

Sie würden, sagen Alena und Gabriel Maruscak, jede Corona Maßnahme befürworten, "solange es nicht um unsere Existenz geht. Wir habeneinen Kredit, ein Haus, Autos, zwei Kinder. Es geht schon auch darum: Wovon lebt so eine Familie? Hier in der Region haben wir es ein bisschen leichter. . Die Leute helfen zusammen. Als wir eröffnet haben, hatte ich Tränen in den Augen. Die Leute haben Gutscheine gekauft, obwohl sie uns gar nicht gekannt haben. Das Zehnfache von dem, was wir normalerweise vor Weihnachten verkaufen. Für so etwas muss man sehr dankbar sein." Das Erfolgsrezept für harte Zeiten? "Ich habe angefangen, zu nähen, als ich ein neugeborenes Baby hatte, obwohl ich das noch nie zuvor gemacht hatte. Und eineinhalb Jahren später habe ich das erste Geschäft mit handgemachter Ware aufgemacht. Wenn man positiv denkt und sich nur mit Menschen umgibt, die einen unterstützen, bekommt man auch Kraft. Meine Kundschaft will mich strahlend sehen, selbst wenn ich abends manchmal zu Hause weine."

Noch ein paar Fakten zu den Neugründungen 2020: Besonders groß war der Zuwachs im Bereich "Versand-, Internet-und allgemeiner Handel" - ein Plus von 18 Prozent. "Offensichtlich hat der Trend zum regionalen Onlineshoppen vielen Jungunternehmerinnen und -unternehmern Mut gemacht", analysiert Christiane Holzinger. Das Durchschnittsalter der österreichischen Gründer beträgt 36,6 Jahre, sie haben also bereits Berufserfahrung gesammelt. Der Anteil jener, die aus der Arbeitslosigkeit gründen, liegt auch im Corona-Jahr stabil bei etwas mehr als fünf Prozent. Und: Der Frauenanteil steigt kontinuierlich an und macht bereits über 45 Prozent aus, 2006 waren es nur 37 Prozent.

Maskennähpakete

Es ist kein schönes Wort, aber Doris Zeikus ist gewissermaßen eine Krisengewinnlerin. Die Mutter dreier Kinder hatte sich vor zwei Jahren entschlossen, einen Onlineshop für Stoffe und Nähbedarf zu eröffnen. Inspiriert von ihrem Mann, einem Förster, der den Schritt in die Selbstständigkeit ebenfalls gewagt hatte. "Er macht, wofür er geboren ist. Ich habe bei ihm gesehen, wie schön das ist." Von Gansbach aus, einem 500-Einwohner-Dorf in der niederösterreichischen Gemeinde Dunkelsteinerwald, zog sie ihr mittlerweile florierendes "Stofferl" auf.

"Am Anfang lief es nicht so gut, und ich habe mich schon gefragt, ob das wirklich richtig war. Aber ich bin ein Mensch, der Herausforderungen liebt. Ich bin immer kreativ und habe Pfeffer im Hintern. Nach dem Motto: nicht lange warten, sondern gleich ausprobieren."

© Ricardo Herrgott/News

Zeikus profitiert von der Corona-Krise: Viele Menschen hatten auf einmal Zeit und entdeckten ihre Lust am Nähen. Die Ankündigung der Maskenpflicht im Frühling traf Zeikus nicht unvorbereitet. Sie verschickte ihre "Maskennähpakete" - zu 20 oder 40 Euro - bis nach Deutschland. Hübsch in Seidenpapier verpackt und mit persönlicher Widmung versehen. "Dadurch ist wirklich ein Stein ins Rollen gekommen. Ich bin bis spät in die Nacht gestanden und habe zugeschnitten." Und Doris Zeikus wagte sich mitten in der Krise an die Verwirklichung eines langgehegten Traumes: die Eröffnung eines kleinen Ladengeschäftes. Seit Oktober ist es zumindest teilweise geöffnet und zieht Kunden aus ganz Österreich an. "Es kommen Leute aus Salzburg, Oberösterreich und Wien, obwohl gerade die Wiener eh genug Angebot vor der Haustür hätten. Aber bei mir spielt sicher das Service eine große Rolle. Die Leute fühlen sich wohl bei mir. Ich versuche, menschlich zu sein und auf die Menschen zuzugehen."

Gründen, meint Christiane Holzinger von der Jungen Wirtschaft, könne man immer. Gerade jetzt seien Frauen und Männer, "die sich was trauen und das Land weiterbringen wollen", gefragt. Die Geschichte von Doris Zeikus zeigt, wie man schnell und smart auf eine neue Situation reagiert. In der Gesellschaft finden derzeit grundlegende Umwälzungen statt, die innovative Unternehmer für sich nützen können. "Ich behaupte sogar, es gab noch nie so viele Umwälzungen zur selben Zeit", sagt Holzinger. "Es gibt praktisch keine Branche, die nicht von ,Disruption' betroffen ist. Ob Digitalisierung, Green Tech, Klimaschutz oder Nachhaltigkeit oder der Gesundheits-und Pharmasektor, wo die Pandemie dauerhaft für mehr Investitionen sorgen wird. Wer da den richtigen Riecher hat, dem stehen alle Wege offen."

Im Sport verwirklichen

Es ist zwar kein High-Fly-Pharma-Start-up, das der 23-jährige Thomas Kadlec vor wenigen Wochen an den Start gebracht hat, aber auch er hat es gewagt, mitten in der Krise neu durchzustarten: mit einem Bodybuilder-und-Fitness-Nahrungsmittel-Laden in der Schwechater Innenstadt. Kadlec trainiert selbst im Fitnessstudio, seitdem er ein Teenager ist, inspiriert von seinem Onkel, dem Bodybuilder Karl Kadlec. Zunächst selbst guter Kunde bei Bodycult, beschloss er im Sommer, Franchise-Partner zu werden. "Ich wollte mich eigentlich schon früher selbstständig machen, Corona hat mir da ein bisschen gegen die Karten gespielt. Aber meine Eltern und meine Schwester haben mich sehr unterstützt", erzählt der gelernte Maler und Anstreicher. "Ich habe davor am Flughafen gearbeitet, aber mir hat immer irgendwas gefehlt. Ich wollte mich im Sport verwirklichen."

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Da die Fitnessstudios derzeit geschlossen sind, gehen viele seiner Kunden Laufen oder trainieren im Keller, sagt Kadlec. "Ich habe keinen Vergleich, weil ich mitten im Lockdown eröffnet habe, aber ich rechne schon damit, dass es bergauf geht, wenn die Studios wieder aufsperren. Es kommen aber auch jetzt viele Kunden herein, die vegane Pasta, Saucen oder Chips kaufen, um ihrem Körper in dieser schweren Phase etwas Gutes zu tun." Jede Krise eine Chance.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Ausgabe Nr. 6/21

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