Wenn die Kunst keine Bedeutung mehr hat

Wie verstehen Kulturjournalisten, die Kunst nicht mögen, Künstler bespitzeln und maßregeln, ihre Aufgabe? Das Berufsverständnis hat sich vielerorts verändert. Kein Wunder, dass uns niemand mehr zuhören will

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Am Abend des Folgetages bin ich jedes Mal ausgerückt, ich konnte nicht anders: zehn Minuten den dunklen Wilhelminenberg hinunter zum Dreiundvierziger, der um diese Tageszeit schon in langen Intervallen verkehrte, mich aber nach zwanzigminütiger Fahrt doch sicher bei der Station Hernalser Gürtel entließ. Dort (und wenn nicht dort, so ein paar Stationen weiter beim Schottentor) hatten die Abendkolporteure der beiden führenden Tageszeitungen ihre Plätze. Im "Kurier" verteidigte der strenge Anfangsvierziger Karl Löbl die Hoheit über das nationale Operngeschehen, und in der "Krone" hielt der Jungdynamiker Karlheinz Roschitz feurig dagegen. Dann wusste ich endlich, wie die Opernpremiere, der ich am Vortag Stimme, Nerven und die verzweifelt benötigte Physiknote geopfert hatte, angekommen war. Und ich wusste, dass auch ich dort ankommen wollte. Den Weg vom Stehplatzler zum Kritiker nehmen, den selbstverständlich jeder dieser Großen gegangen war: Das war der Traum, der sich dann über die "Arbeiterzeitung" erfüllte.

Einen Monat nach meinem 14. Geburtstag hatte mich die Oper über eine "Meistersinger"-Vorstellung gefangen, und ich habe dort, im Musikverein und im Konzerthaus für den Beruf mehr gelernt als auf der Uni. - Begleiten Sie mich jetzt eine beunruhigende Zahl an Jahrzehnten weiter, in die Zeit des "Lockdowns" vor einem Jahr. Alles, ohne das ich bis heute kein wirklich gutes Leben hätte, war abgesagt. Aber dank einer Kooperation des Senders ORF III mit den Philharmonikern saß ich, ein Privilegierter unter einer Handvoll Kollegen, im Stehplatzbereich des leeren Musikvereins. Das Orchester nahm unter Welser-Möst denk- und erinnerungswürdig die Neunte Mahler auf, die keine Tonartenbezeichnung mehr kennt und sich am Ende unter der Anweisung "ersterbend" entmaterialisiert. Und mitten in dieses letzte Atemholen eines Genies pfefferte, partiturgenau auf dem Punkt, ein einziges lautes, scharfes, demonstratives Räuspern aus unserem Kritikerkäfig. Den Kollegen war, wie auch mir, nach Lynchjustiz zumute, und zwei Tage später lasen wir, was dem jungen Mann nicht gepasst hatte: Die Zumutung, in den Stehplatzbereich verwiesen worden zu sein, war es, wo man doch keine eines Großkritikers würdige Akustik vorfinde! Das Kuriose ist, dass mir das Herz geklopft hatte, als ich die alte Heimat wieder betreten durfte. Ich bin dort beim ersten Abonnementkonzert des jungen Abbado fast außer Kontrolle geraten, träume noch vom Mozart-Klarinettenkonzert unter Böhm mit dem Solisten Alfred Prinz und habe dem derangierten Mario del Monaco während eines bedenklichen Barockkonzerts telepathische Durchhalteparolen gemorst. Nur akustische Mängel wären mir auf den erstklassigen Parterreplätzen nie aufgefallen.

Ahnen Sie jetzt, weshalb es mit unserem Beruf so finster aussieht? Weshalb wir Kritiker uns in immer engere Segmente drücken müssen? Ich will hier kein Generationenproblem unterstellen, das wäre mies. Aber es fehlt an der Grundbefindlichkeit der Liebe. So wie der Stehplatz fehlt, seit die Einführung der prinzipiell schätzenswerten Studentenkarten diesen Orden verschworener Sonderlinge über die Ränge verteilt hat.

Und Kulturberichterstattung ohne Liebe ist nichts Gutes, ist fahl und unglaubwürdig. Sie konnte sich auch früher in destruktiven Leidenschaften artikulieren, aber immer ist es um die Kunst gegangen, und alles andere war zweitrangig. Darüber waren wir uns auch in den härtesten Auseinandersetzungen um Peymann, Nitsch oder Mortier einig und haben Kunstfeinde aus unseren Reihen ausgeschlossen. Heute gibt es die durchaus meinungsrelevante Gruppe der Kulturbobos, die diese Priorität nicht anerkennen. Es geht da um Empören unter Gleichgesinnten in den Foren, die zum Geschäftsmodell auch analoger Medien geworden sind, um das Ahnden ungeziemenden Verhaltens und politischer Inopportunität, um Likes und Windstärken beim Shitstorm. Ich halte es für keinen Zufall, dass die nämliche Zeitung, die den Huster auf Mahler losgelassen hat, an der Spitze der heimischen Kampagne gegen Peter Handke stand. Dass dort auch gegen die Philharmoniker Stellung bezogen wurde, als sie unter damals erheblichen Risiken den Konzertbetrieb am Leben erhielten und dafür beim Impfen vorgezogen wurden. Soeben wurde dort einem hetzenden "Blogger", der Denunziationslisten gegen russische Künstler führt, viel Platz eingeräumt, während sich die Branche aus Respekt vor Anna Netrebko, Teodor Currentzis oder Valery Gergiev mit digitalen Schlägerkommandos ansonsten nicht gemein macht. Das ist Zeitverhängnis, da hilft keine Streckenkarte für den Dreiundvierziger.

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