Von wem lassen wir uns tyrannisieren?

Ein Benefizkonzert des großartigen Ensembles MusicAeterna im Wiener Konzerthaus wurde nach erhellungsbedürftigen Umtrieben abgesagt. Die Kulturwelt sollte jetzt etwas Charakter zeigen

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Das ausverkaufte Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie, so entnehme ich deutschen Medien, war ein riesiger Erfolg. Dem Orchester MusicAeterna unter seinem Gründer, dem griechischen Dirigenten Teodor Currentzis, sei "eine große Wärme" entgegengebracht worden. Nach dem Konzert seien alle aufgesprungen. Und im "sehr diversen" Publikum hätten sich junge Menschen, die man sonst in Pop-Konzerten vermuten würde, mit Kiezgrößen und etwa 100 ukrainischen Flüchtlingen getroffen. Proteste? Keine. Warum auch, möchte man hinzufügen. MusicAeterna, eine aus Orchester und Chor formierte Gruppe erstklassiger Musiker, ist ja ein Friedensprojekt, wie man es sich erträumen müsste, wenn es nicht schon existierte. Hier wird von 150 meist jungen Menschen aus Russland und der Ukraine, aus Armenien und der Türkei, aus Frankreich und der Schweiz, aus Griechenland, Israel, Deutschland, Spanien, Italien, Kasachstan, Weißrussland, Georgien und Japan großartig musiziert. Seit 2004 haben sie sich aus Nowosibirsk, wo einander Polarfuchs und Schneehase gute Nacht sagen, in die besten Säle der Welt gespielt. Tage vor dem Auftritt in Hamburg musste der Intendant des Wiener Konzerthauses, Matthias Naske, das Orchester und den Dirigenten davon in Kenntnis setzen, dass ein beabsichtigtes Benefizkonzert für Hilfsmaßnahmen in der Ukraine endgültig abgesagt sei. Und nicht genug damit, wie Naske im News-Gespräch anmerkt: "Ich habe am 6.4. das Ensemble darüber informiert, dass wir sie so lange nicht mehr im Haus beschäftigen können, bis sie eine von der Politik unabhängige Förderung genießen." Daran nämlich entzündete sich eine beschämende Kampagne: Das Ensemble hätte seinerzeit nie in die sibirischen Einöde gestellt werden können, wäre nicht die jetzt sanktionierte russische VTB-Bank bei der Gründung behilflich gewesen. Andere Wege der Finanzierung sind in Putins Russland nicht begehbar.

Nun haben die couragierten Musiker zuletzt schon viel gewagt. Sie haben auf ihrer Tournee Werke ukrainischer Komponisten ins Programm genommen, und wenn das abgesagte Benefizkonzert im Kreml als illoyaler Akt wahrgenommen wird, was Naske alles andere als ausschließen will, können die Zeiten zumindest für die russischen Orchestermitglieder und ihre Familien dramatisch werden.

Dass sie sich für ihren Mut auch noch demütigen lassen müssen, ist ein Skandal, wie man ihn außerhalb Österreichs nicht für möglich hielte. Um sich anbahnenden Debatten die Tat entgegenzusetzen, ohne sich deshalb daheim den Teufel ins Haus zu holen, wollte man den Erlös eines der drei Konzerte dem Roten Kreuz zukommen lassen. Was sich, von Naske bestätigt, daraufhin entspann, werden Sie mir vielleicht nicht glauben: Ein "Blogger" rief beim Roten Kreuz an und bezichtigte das Unternehmen in gebrochenem Englisch des "whitewashing". Worauf das Rote Kreuz die Kooperation absagte, wovon die Presse eineinhalb Stunden vor dem Konzerthaus erfuhr (dass das mehr als ein Gerücht ist, glaubt man widerstrebend, wenn man sich etwa die Eskapaden des Google-promovierten Rotkreuz-Immunologen Gerry Foitik im signalroten Sanitätsstrampler vergegenwärtigt). Daraufhin war die Caritas gern bereit, die noble Geste zu beglaubigen. Aber der ukrainische Botschafter ließ den Konzerthausdirektor wissen, er halte den Auftritt für unmoralisch. Da sagte Naske, um weiteres Unheil von den Beteiligten abzuwenden, das gesamte Unternehmen ab. Mittlerweile wurde die Exzellenz auch schon bei der Politik vorstellig, um den Auftritt des griechischen Dirigenten mit einem ganz anderen Orchester bei den Salzburger Festspielen zu unterbinden.

Mit dem "Blogger" brauchen wir uns nicht aufzuhalten. Diese epidemisch auftretenden Existenzen aus dem halbprofessionellen Raum, die gern andere Unerlöste zum Rudelstänkern um sich sammeln, können so lange nichts anrichten, als ihnen der Weg ins professionelle Segment verschlossen bleibt (durchaus eine Verantwortung, derer sich Künstler und Medien bewusst sein müssen). Der Botschafter allerdings ist, diesfalls in Wertschätzung, davon in Kenntnis zu setzen, dass die Programmierung von Kulturveranstaltungen außerhalb seiner Kompetenz liegt. Denn wie sich gerade am Umgang mit dem deutschen Bundespräsidenten zeigt, kann Solidarität auch überstrapaziert werden.

Teodor Currentzis und sein Ensemble wollten sich übrigens schon seinerzeit in Österreich niederlassen, um das Theater an der Wien ins Weltformat zu spielen. Das wollte die Politik nicht, aber anderswo ist man, Informationen zufolge, weniger engherzig. Über Nacht lässt sich das freilich so wenig finalisieren wie die Suche nach einem anderen Sponsor. Bis es soweit ist, haben Currentzis und sein Ensemble der zivilisierten Welt so willkommen zu sein wie die großartige Sopranistin Anna Netrebko.

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