Der Opportunismus als Nationaltugend

Nie wäre es mir eingefallen, Sebastian Kurz auch nur zu schätzen. Aber wie sich jetzt alle seine Profiteure davonmachen, noch ehe etwas erwiesen ist - das geht über mein Verständnis von Charakter

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

In der Vorwoche habe ich schon gedroht, dass noch etwas kommt: zum atemberaubenden Opportunismus im Umgang mit Sebastian Kurz nämlich. Dann starben die Gruberova und der Schriftsteller Helmut Korherr, die noch posthum unvorstellbar wichtiger sind als sämtliche österreichischen Altkanzler (Kreisky vielleicht ausgenommen). Also vertagte ich mich mit mir und meinem Groll auf die vorliegende Ausgabe. Mittlerweile ist allerdings der Dirigent Bernard Haitink gestorben. Um den ich gleichfalls nicht herumkommen sollte, denn er war einer aus der sich furchterregend reduzierenden Population großer, nicht zur Größe aufgeblasener Dirigenten. Was aber andererseits nichts zur Sache tut, denn dass ein Dirigent, außer weiblichen Geschlechts zu sein, noch etwas können müsste, steht nicht mehr zur Debatte. Nicht, dass die Damen, die jetzt an die Pulte der Opern-und Konzerthäuser drängen, schlechter wären als die Herren ihrer Generation. Einige von ihnen sind ziemlich gut (ein herausragendes Talent wäre mir bis zur Stunde allerdings nicht aufgefallen), die meisten mittelmäßig und nicht wenige unbegabt. Wie das, geschlechterübergreifend, in Berufen, die sich der Herstellung des Außerordentlichen verschrieben haben, eben so ist.

Nur, dass es um das Außerordentliche in der Kunst längst nicht mehr geht, seit sogar schon der Literaturnobelpreis diversitätsfreundlich die Kontinente berieselt, als könne Genie mit der Gießkanne aus der Erde gelockt werden. Insofern musste Haitink, der ein wahrer Gigant war, ein handwerklich grandioser und doch vollkommen verinnerlichter Musiker, froh sein, dass er nicht vor 50 Jahren im Aufzug eine Oboistin begehrlich angeblickt hat. Ein Glück nur, dass seine Bruckner-Kompetenz von den weißen, auch nicht mehr blutjungen Männern Thielemann und Welser-Möst weitergetragen wird.

Damit kann ich unter Aufbietung der mir eigenen Eleganz sogar zum eigentlichen Thema dieser Einlassungen überleiten. Ich vermag nämlich kaum zu glauben, was ich im tagespolitischen Alltag zu sehen, notabene zu lesen bekomme. Vorzuschicken ist, dass mir nie im Traum eingefallen wäre, Sebastian Kurz zu wählen oder auch nur zu schätzen. Meine unsterbliche Freundin Lotte Tobisch hat ihn das größte politische Talent seit Figl, Kreisky und Haider genannt, weil er genau die Bedürfnisse der Zeit erfülle. Damit hatte sie, die selten geirrt hat, insofern recht, als Kurz das digitale Zeitalter in Idealausführung verkörpert hat. Früher hätte man ihn mit Barbies Ken verglichen, heute wäre er virtueller Protagonist des jeweils angesagten Computerspiels. Kurz erinnere ihn an die Gummimaske eines Bankräubers, artikulierte Peter Handke das Unwirklichkeitsgefühl, das ihn bei des Kanzlers Fernsehauftritten anflog.

Andererseits wurde der Mann zwei Mal mit Kantersieg gewählt, weil die Mitbewerber zum Erbarmen waren. Und dass der Messias mit seinem Erlösungswerk beim Vorgänger Mitterlehner angesetzt hat, lässt aus Parteiperspektive sogar den Segnungsakt in der Stadthalle als Resultat kühler politischer Einschätzung erscheinen: "Herr, wir danken dir für diesen Mann!" Was Kurz damals und später tatsächlich begangen hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Über den karikaturhaften Untersuchungsausschuss hätte womöglich auch ich mich lustig gemacht. Und dass jemand 1,3 Millionen Euro veruntreut hätte, um mit Umfragen, die sich von allen anderen nur marginal unterschieden, den Eingangsbereich der Wiener Linien zu vermüllen: Das will sich mir nicht erschließen.

Jedenfalls ist ihm bis dato nichts nachgewiesen. Und dass unter diesen Umständen auch Medien, deren Zuständige im Kurz'schen Abdominalbereich kommod Quartier genommen hatten, mit der fahrbaren Guillotine ausrücken; dass in Schnellumfragen 71 Prozent dem eben noch irrational adorierten Kanzler als einem heimtückischen, umweglos aus dem Verkehr zu ziehenden Ganoven das Vertrauen entziehen; dass sich die Landespolitiker, weil Kurz anno 2016 einen von ihnen in Privatkorrespondenz "Oasch" geheißen hat, einer nach dem anderen davonmachen: Das geht über mein Verständnis.

Darum wollte ich schon in der Vorwoche die Politiker Alexander Schallenberg, Susanne Raab und Andreas Khol dafür loben, dass sie nicht unverzüglich das Hasenpanier ergriffen haben. Der Kanzler vor allem erbringt den Beweis, dass die aristokratische Erziehung etwas für sich haben kann, ohne deshalb einem Automatismus zu unterliegen. Es gibt eben solche wie Schallenberg und solche wie Gudenus.

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