Kein "Ottokar"
und eine "Walküre"

Eine durchschnittliche Woche in der Kulturstadt Wien. Staatsoper und Volkstheater werfen fundamentale Fragen zu den Rechten, Pflichten und Grenzen der Regie auf

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Die nun endende Woche war eine der lehrreicheren meines Berufslebens. Am Dienstag habe ich im Volkstheater etwas gesehen, das sich als "König Ottokars Glück und Ende" von Grillparzer ausgab. Die Kollegen haben sich sehr amüsiert, ich gar nicht. Lassen Sie mich ausholen. Der Regisseur Dušan David Pařízek mag das Stück nicht. Das haben wir gemein, denn Grillparzers Umgang mit dem Blankvers ist eine Qual für alle Beteiligten (insbesondere für den Blankvers), und seine Genügsamkeitsappelle, die alles Hochfliegende und Maßlose mit dem Höllensturz ahnden, propagieren die Ideologie des Metternich'schen Untertanenstaates. Dass sich sein Werk aus den Tiefen einer unglücklichen, verbogenen österreichischen Seele speist -und dass daraus einige detailscharfe Porträts resultieren -, ist gewiss ein Argument. Ich halte es trotzdem mit Karl Kraus, der Grillparzer einen "Taferlklassiker" nannte.

Auch Pařízek hält vom Stück nichts. Er ist Tscheche, und Grillparzer treibt den gegen die Habsburger aufreibenden Böhmenkönig wie eine Abnormität durch das Dorf. Was ich nicht akzeptiere, sind die Schlüsse, die seitens der Aufführung gezogen werden. Pařízek duckt vor dem vertrackten Text ab. Er missbilligt ihn nicht einmal - ausgerechnet Ottokars gedemütigte und weggeworfene Gattin wird als klamaukhafte Transvestitennummer denunziert; er packt ihn nicht bei seinen Absonderlichkeiten, er schlägt ihn nicht in Stücke: Er schwänzt ihn mittels weitgehender Abschaffung. An seine Stelle komponieren Regie und Dramaturgie (eine der überschätztesten Berufsgruppen) infantile Spaßdialoge. Dazu versuchen sich Schauspieler, die das nicht können, ohrenfolternd in Operettenidiomatik.

Das Resultat ist ein Garnichts. Mit Grillparzer hat es nichts zu tun, wie selbst Apologeten einräumen. Für eine Parodie ist es zu schlecht: Kabarettist ist ein Beruf, der Dilettanten verwehrt werden sollte. Das gilt auch für das Geschäft des Dramatikers: Dass der Fundus archetypischer Geschichten immer neu erkundet wird, ist eine hundertfach beglaubigte Übung, sonst wäre nach Aischylos ein Gutteil der klassischen Literatur unverfasst geblieben. Aber wenn sich Shakespeare, Heiner Müller oder zuletzt Ewald Palmetshofer (mit der Neudichtung einer Rarität von Gerhart Hauptmann) zum Schöpfungsakt entschließen, ist das etwas anderes als die Bemühungen biergetriebener Gaudi-Literaten. Da dieser "Ottokar" nun alles andere als ein Einzelfall ist, deklariere ich mich hiermit als Troglodyt: Wer mit einem Stück nichts anfangen kann oder will, lasse die Finger davon.

Vier Tage später war ich in der Staatsoper bei einer mehr als soliden "Walküre": sensationell dirigiert von Axel Kober, ordentlich bis fulminant (Tomasz Konieczny als Wotan) besetzt und von Sven-Eric Bechtolf dermaßen schlüssig und praktikabel inszeniert, dass sich das Ergebnis auch nach 16 Jahren ansehen lässt. Bei dieser Gelegenheit habe ich dem Operngenre meine Glückwünsche übermittelt. Welch ein Privileg ist es, dem Gestaltungsdrang von Exhibitionisten, die nicht selten mit der Lektüre des Klavierauszugs überfordert sind, ein kompaktes Arsenal in den Weg stellen zu können! Taktstriche und Vorzeichen lassen sich nicht einfach verrücken (sieht man davon ab, dass sich mancher Höhenastheniker die eine oder andere Arie transponiert). Noch steht die Partitur im Zentrum. Wer sie authentisch und bewegend umsetzt - wobei es weder auf die Kostümierung noch auf das Nachbuchstabieren der oft albernen Libretti ankommt -, der ist auf der richtigen Spur. Dass man in eine Barockoper eine Arie aus einem anderen Werk collagiert: geschenkt. Aber wer an einem strukturierten Musikdrama Wagners oder Verdis zu stümpern beginnt, wie es im Theater Alltag ist: Der ist der Feind.

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