Der päpstliche Denunzius

Eine Blase von Denunzianten behauptet die Vorherrschaft über den gesellschaftlichen "Diskurs". Es trifft Große wie Handke ebenso wie politische Zwerge

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Aufregend war das, schwebend in seinem gutgelaunten Missmut, jeder Gedankengang ein Argument, jeder Satz Literatur. Ich meine die Interviews, die Peter Handke in seiner Eigenschaft als designierter Nobelpreisträger (sehr) ausgewählten Journalisten gewährt hat. Das erste, zwei Tage nach der Bekanntgabe geführt, erschien in diesem Medium, später folgten Ulrich Greiner in der "Zeit" und Kollegen u. a. der "Kleinen Zeitung" und der "Salzburger Nachrichten." Eine publizistische Richtungsentscheidung wurde da offenbar: zwischen der Solidarität mit der Sprache in ihrer weltliterarischen Vollendung auf der einen und fachfremder Denunziation auf der anderen Seite. Der Tief-, gleichzeitig der Wendepunkt, war erreicht, als sich ein dubioses Enthüllungsportal rühmte, einen alten, lang bekannten und veröffentlichten Reisepass Handkes entdeckt zu haben. Nach der daraufhin glücksgackernd publizierten Anregung, man könne dem Nobelpreisträger ja eventuell die Staatsbürgerschaft aberkennen, legte eine kompakte Delegation des Geisteslebens öffentlich Protest ein.

Im Verlauf dieser Vorgänge wurde mir nicht zum ersten Mal bewusst, dass wir in der Denunziationsgesellschaft leben. Der Fall Relotius war ein markantes Signal: Das "Spiegel"-Starlet hatte der aufgeklärten Gesellschaft geschenkt, wonach sie sich verzehrt - nämlich Gut-Böse-Befunde, die in komplizierter Zeit nicht mehr verfügbar sind. Aufgeflogen ist er, weil ihn ein Konkurrent systematisch belauert und dann nicht etwa zur Rede gestellt, sondern bei den Vorgesetzten angegeben hat. Nicht, dass es um Relotius, den Borderliner, schade wäre. Aber der Denunziant wurde allseits als Held und Retter der Qualitätspublizistik gefeiert. Bei uns im Gymnasium Wasagasse hätte er seinerzeit ein paar Watschen bezogen. Oder der Medienwissenschaftler, bei dem man gegen exorbitante Summen jede beliebige Dissertation auf Plagiate überprüfen lassen kann, damit selbst im Fall der finalen Entwarnung etwas hängenbleibt. Der Mann ist fraglos einer der geistigen Nährväter des Halbwüchsigen, der soeben die "Lehrer-App" on-und wieder offline gestellt hat: Aufgefordert wurde zur anonymen Denunziation, jedermann gegen jedermann. Mit ungläubigem Entsetzen musste der Betreiber zur Kenntnis nehmen, dass sich die Denunziationsmaschine gegen ihn zu wenden begann. Möge er fürs Leben gelernt haben.

Damit sind wir beim Hauptverursacher: Solange für die so bezeichneten sozialen Medien nicht die rigiden Regeln des Mediengesetzes gelten, wird sich die Lage ständig verschärfen. Zum Beispiel ist der Tiroler SPÖ-Vorsitzende Dornauer fraglos einer, dem man während der Jagdsaison ungern allein im Wald begegnen würde. Aber welchen Wagen er fährt, ist ausnahmslos seine Angelegenheit. Und der amtsnotorische Sonderling, der den Dornauer-Porsche im Oktober fotografiert und die Bilder online gestellt hat, ist ein Denunziant, der an den Ohren vom fremden Eigentum weggezogen werden sollte. So wie es ohne Belang ist, welche unabwendbar ablaufende Uhr an Thomas Drozdas Handgelenk tickt. Oder wo Pamela Rendi-Wagner im Urlaub essen war. Wenn der bedeutende Künstler Attersee eine nackte Schifahrerin malt, wenn sich der schlechte Kabarettist Nuhr der Gretalästerung schuldig macht, tritt die Denunzianten-Scharia in Kraft.

Speziell in Bobo-Kreisen ist die Denunziation Freizeit-, wenn nicht Lebensinhalt geworden. Es wird nicht mehr diskutiert, sondern "Diskurs" geführt, das heißt: Jeder Inhaber einer den Bobo-Gewissheiten zuwiderlaufenden Meinung ist zur Rechenschaft zu ziehen, hat er doch die Grenzen der "Achtsamkeit", wenn nicht gar die "rote Linie", überschritten. Der Korrektheitsblockwart hat sich als päpstlicher Denunzius kostümiert. Beginnen wir, ihn zu denunzieren.

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