Wie mir Corona meinen Traum erfüllte

Um elf im Musikverein, abends in der Oper: Seit meiner Stehplatzzeit kannte ich diesen Luxus nicht mehr. Leider fehlt es heute vielfach an großen Dirigenten, wie in der Oper offenbar wurde. .

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Sollten Sie mir jetzt böse werden wie einem Impfdrängler aus dem Vorderen Mühlviertel, könnte ich Ihnen das nicht einmal verdenken. Aber da ich meinen geschätzten Lesern für ihre korrespondenzfreudige Treue strikte Offenheit schulde, muss es heraus: Mir eröffnet sich in diesen kunstfernen Zeiten der Beruf, von dem ich träume, seit die wunderbaren Stehplatzjahre der Wirklichkeit des Arbeitslebens gewichen sind. Sonntag vor einer Woche war ich schon nah am Glück: um elf im Philharmonischen, abends in der Oper. Das war in Gymnasialzeiten olympische Routine und ist paradoxerweise heute wieder möglich, da die mich sonst in Beschlag nehmenden großen Theater in gedämpft sudernder Bewegungslosigkeit verharren. Wohingegen der Operndirektor und die philharmonische Führung mithilfe des ORF Fenster um Fenster aufstoßen.

An besagtem Vormittag hatten die Philharmoniker zur Aufzeichnung der Fünften Bruckner unter Thielemann in den Musikverein geladen. Dreimal 2.000 wären gern zum traditionellen Termin gekommen, aber mehr als die schütter mit Kritikern besetzte fußfreie Reihe durfte es nicht sein. Hinten im Stehparterre, wo wir uns damals gegen die Gitterstange gedrängt haben, stand nicht einmal eine Kamera. Karajan, Kleiber, Harnoncourt, Klemperer, Krips, Boulez, Abbado und, für mich der Größte von allen, Karl Böhm: Hinter keinem von denen, die ich noch erleben durfte, müsste sich Thielemann in die zweite Reihe verziehen. Was er an diesem Vormittag aufrief, stand auf der zeitlosen Höhe großen, inspirierten Musizierens. Abbado war meinerzeit noch ein bestaunter Neuerwählter am philharmonischen Pult, so wie auch seine Kollegen Riccardo Muti, demnächst 80, und Zubin Mehta, 84. Der bewunderte Harnoncourt, der damals die Interpretationsgeschichte umzustürzen begann, wäre in dieser konservativen Zeit maximal als Orchesterwart in die Nähe des philharmonischen Pults gekommen. Und es gab noch eine tadellos besetzte zweite Reihe.

»Für TikTok müssen die Leute nicht in die Oper. Das haben sie daheim auch«

Und heute? Damit komme ich zum Abendtermin vom vergangenen Sonntag, der "Traviata"-Premiere. Am Pult stand der angesagte junge Italiener Giacomo Sagripanti und hatte hörbar keine Ahnung vom Operndirigieren. Dass man mit den Sängern Atem holen muss, um einander gegenseitig immer höher zu tragen, weil es sonst plump und gestaltlos wird: Das war schon kurz zuvor, in der „Carmen“-Premiere, dem Dirigenten Andrés Orozco-Estrada verborgen geblieben, einem glutäugigen Feuerwedler, der per Amtsvorrückung über die Tonkünstler an die Spitze der Symphoniker gelangt ist. Die Hundertstelsekunde, die das Orchester dem Sänger hinterher ist, weil es auf ihn wartet, türmt sich in Summe zur bleiernen Masse. Thielemann und drei, vier andere halten in der Oper schon das Monopol.

Die Präpotenz der Agenten, die ihren Talenten das Operndirigieren mangelnder Attraktivität halber untersagt haben, wird jetzt schlagend. Wobei das nicht nur eine Frage der Generation ist: Die australische Dirigentin Simone Young, 60, hat uns jüngst wissen lassen, die Uhr alter, weißer, männlicher Kollegen sei abgelaufen. Das hat mich verwundert, denn gerade Frau Young ist das Beispiel für das Grenzensprengende der Musik: Ohne Ansehen des Geschlechts, der Hautfarbe, des Alters, der religiösen oder sexuellen Orientierung zählt sie zu den schlechtesten Dirigenten, die ich seit 1969 erdulden musste.

Ein Wort noch zur gut besetzten "Traviata", diesfalls zum rechtens namhaften Regisseur Simon Stone: Öfter hat er die Menschheitsmythen (etwa Medea) durch Aktualisierung verkleinert. Aber die Courtisane Violetta in die Idiotenwelt der Influencer zu setzen: Das geht auf und übt starke, bildmächtige Wirkung aus. Stones Problem ist ein grundlegendes: Er lässt die Musik nicht in Ruhe. Arien im Besonderen mag er nicht, eventuell sorgt er sich, dass das Publikum per iPhone zu TikTok ausweicht, wenn einer, mir nichts, dir nichts, zu singen beginnt. Also wirft er über bühnenhohe Videowände die TikTok-Maschine an. Aber Verdis Arien sind verdammt gut. Und für TikTok können die Leute gleich zu Hause bleiben.