Als die Massen noch für Karl Schranz rannten

Ein so sentimentaler wie zorniger Rückblick auf den 8. Februar 1972. Ein Sport-Idol kehrte disqualifiziert und doch triumphal aus Sapporo zurück. Der große Gerd Bacher warf die Orgel an. Und wie er das konnte!

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Ich war nämlich dabei. Meine herzensgute Englischprofessorin Elfriede Faßbinder, die auch die Inbetriebnahme mitgebrachter Kofferradios nie unterband, wenn uns patriotisch der Hahnenkamm schwoll, hatte zur Feier des Tages die Maturavorbereitungen ausgesetzt. Also brachen wir, offen verachtet von den deutlich erwachseneren Mädchen, zu fünft vom nahen Wasagymnasium zum Ballhausplatz auf, um uns den 100.000 anzuschließen, die den heimgekehrten Schirennläufer Karl Schranz feierten. Was heißt Schirennläufer? Bis heute klopft mir in der Erinnerung an den 8. Februar 1972 das Herz. Und als ich kürzlich während der Festspiele von Grafenegg neben dem gereiften Unsterblichen zu sitzen kam, habe ich ihn zu seiner Erheiterung um ein Autogramm gebeten.

Woher dieser publizistische Sentimentalitätsschub? Weil der 8. Februar vor 50 Jahren in so miserablem Ruf steht, obwohl er ein guter Tag war. Der IOC-Präsident Avery Brundage, ein antisemitischer amerikanischer Rechtsradikaler, der den alpinen Schisport nicht mochte, hatte den nicht mehr blutjungen Schranz von seiner letzten Hoffnung auf eine olympische Goldmedaille disqualifiziert. Der Anlass war lachhaft: Schranz hatte während einer benefitären Wiesenkickerei ein Leibchen mit der Aufschrift "Aroma-Kaffee" getragen. Damit habe er den Amateur-Paragraphen verletzt, der schon damals totes Recht war, ein Zombie der Sportgeschichte wie der wenig später demissionierende und alsbald verscheidende Brundage.

André Heller und Georg Danzer, keine Rechtsradikalen, brachten damals die Single-Platte "Der Karli soll leben" auf den Markt. Aber die schon damals lästigen Bedenkenträger unter den Erwerbsgutartigen wollten einen Auflauf verhetzter Massen wie anno ’38 wahrgenommen haben.

Das bringt mich auf die aktuellen Befindlichkeiten: Damals nannte man friedliche Sportbegeisterte Faschisten. Heute randalieren erklärte Nazis unter dem Schirm der pervertierten Versammlungsfreiheit jeden Samstag in der Innenstadt. Selbst die Errichtung von Schutzzonen um Spitäler und Schulen wird seit Wochen ergebnislos geprüft. Es könnte ja der Verfassungsgerichtshof, dieser seit Ausbruch der Pandemie verlässlichste Verbündete des wuhanesischen Mistviehs, über das Pack die Hand halten.

Anno 1972 war gutartigerseits auch ausgemacht, wer die 100.000 auf den Weg geschickt hatte: Gerd Bacher sei es gewesen. Und tatsächlich geht diese Mobilisierung auf den in vieler Hinsicht historischen Gründungs-Generalintendanten des ORF.

Gerd Bacher. Ich habe ihn noch recht gut gekannt, und Hugo Portisch und Hans Dichand ausgenommen hat es im österreichischen Journalismus nach dem Krieg keinen wie ihn gegeben. Portisch, damals Chefredakteur des "Kurier", war 1964 in den Besitz eines (noch anders genannten) "Sideletters" der großkoalitionären Parteien gelangt. Nichts Geringeres war da festgelegt als die proporzionale Verteilung des staatlichen Rundfunks bis in die letzten Chargen. Portisch setzte dagegen das Rundfunk-Volksbegehren in Betrieb. Und just der schwarze Alleinregierungskanzler Josef Klaus, nach dessen Abwahl Kreisky die politische Neuzeit anbahnte, entließ 1967 den nunmehr so genannten ORF in die nominelle Unabhängigkeit. Vermutlich hatte er es anders gemeint: Der rabenschwarze Salzburger Gerd Bacher sollte den neu formierten Staatsfunk in bisher ungekanntem Ausmaß der Regierungspartei verpflichten. Womit man nicht gerechnet hatte: Bacher war ein Genie von rabiatem Qualitätsanspruch, und alsbald flog der neue Sender den Parteien um die Ohren. Der auch akustisch raumverdrängende Helmut Zilk wurde Programmdirektor, er war Sozialdemokrat und Freimaurer wie der Unterhaltungs-Chef Kuno Knöbl, der gegen Empörungskundgebungen das wegweisende Format "Wünsch dir was" kreierte. Er brachte die Konservativen gegen sich auf wie der Chefredakteur Alfons Dalma, ein maximal notdürftig geläuterter Ustascha-Aktivist, die Linken.

Von meinem geschätzten Freund Alfred Treiber, der später ein großartiger Ö1-Direktor war, weiß ich eine Anekdote aus seinen wilden Tagen beim Jugendsender Ö3, den Bacher u. a. mit André Heller erfunden hatte. Der junge Treiber wühlte gerade, den Kapitalismus verdammend, im schulterlangen Haupthaar, da erreichte ihn eine Nachricht von ganz oben: Der Chef wünsche ihn zu sprechen, und das gleich. Schlimmes befürchtend, brach Treiber zum Küniglberg auf und wurde ohne lange Einleitung wie folgt beschieden: "Sie verkörpern alles, was ich verabscheue. Aber Sie san guat! Wolln S’eine Feature-Redaktion gründen?" Treiber wollte und schrieb Geschichte, wie es unter Bacher fast obligat war.