Späte Lehren aus einer Begegnung mit Rushdie

Wie der indisch-britische Weltliterat vor 13 Jahren der schützenden österreichischen Staatspolizei entkam. Und weshalb eine Fatwa heute per Internet jeder kriminelle Idiot erlassen kann.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Die Verhängung der Fatwa lag dreizehn Jahre zurück, und das Verhängnis hatte sich schon vier Monate später ins Paradies aufgemacht. Überdies hatte nach Ruhollah Khomeinis Tod ein Konkurrenz-Ajatollah die Sache für erledigt erklärt. Also blieb das öffentliche Interesse überschaubar, als der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie am 15. April 2002 auf Einladung der Zeitschrift News in Wien den Roman "Wut" vorstellte. Die Staatspolizei allerdings fuhr einen Sicherheitsapparat auf, den alle Beteiligten - der Beschützte inbegriffen - für überausgestattet hielten. Als Veranstaltungsort waren, der überblickbaren Zugänge wegen, die Konferenzräume des Museums für Angewandte Kunst festgelegt worden. Die 600 ausnahmslos geladenen Gäste wurden auf das Peinlichste perlustriert, und schon Stunden zuvor hatte der beamtete Sprengstoffhund, offenbar irritiert von der allgemeinen Aufregung, im Minutentakt angeschlagen.

Im Auditorium saßen beinahe so viele Polizisten wie literarisch Interessierte, aber alle in Zivil, denn Rushdie duldete keine Uniformen im Saal. Nach der Veranstaltung, in deren Verlauf der Schriftsteller Robert Menasse solidarisch aus dem Roman vorgetragen hatte, schärften sich die Ereignisse zum Schelmenroman: Rushdie und der frühere Kunstminister Rudolf Scholten bezogen wie beiläufig hart am Aufzug Position und drückten nach dessen Eintreffen den nachdrängenden Personenschützern die Türen vor der Nase zu. Die Stapo hat die beiden an diesem Abend nicht mehr gefunden, sie genossen mit Freunden den Wiener Frühlingsabend. Dass im Ernst etwas passieren hätte können, hielt keiner für möglich.

Wie sich die Causa um den vielschichtig verrätselten Roman "Die satanischen Verse" jenseits religiöser Fanatikerkreise ja insgesamt irrational darstellt. Es geht da um zwei indische Moslems, die nach England immigrieren und vielleicht eine Flugzeugkatastrophe überleben. Sie können aber auch in einem mythischen Jenseits erwacht sein, oder sie haben tatsächlich überlebt und in ihren Gehirnen eine schützende Wahnwelt gegen das Erlittene errichtet. Jedenfalls entwirft der eine, ein Schauspieler, den Gründermythos des Islam neu, wobei die Ehefrauen des als Mohammed erkennbaren Propheten in einem Bordell amtieren. Das war genug für ein Todesurteil.

Österreich war in den harten Jahren nach der Fatwa ein treuer Verbündeter. Der Staatspreis für Europäische Literatur, dessen Zuerkennung man 1993 zunächst der Öffentlichkeit verschweigen wollte, wurde dann doch in würdigem Rahmen überreicht. Scholten, der große Schriftstellerkollege Peter Turrini und André Heller boten dem Verfolgten Zuflucht, und zum Republik-Jubiläum anno 1995 sprach Rushdie auf dem Heldenplatz.

Und jetzt, 33 Jahre nach der Fatwa? Bedarf es keines Religionsführers mehr, um solch ein Todesurteil zu erlassen. Jeder Trottel darf sich zur digitalen Befehlsausgabe qualifiziert fühlen und andere Trottel auf den Weg befördern, wie das Demokratieversagen um die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr belegt. Purer Zynismus ist es, wenn die Justizministerin befindet, ihr Gesetz gegen Hass im Netz sei ausreichend: Es gewährt ja nur Zugriff auf die großen, kommerziellen Internet-Unternehmen. Der kleine, materiell desinteressierte Überzeugungsmörder darf, was nicht einmal ein Volontär im hinterletzten Provinzschmierblatt dürfte: Hetze aus allen politischen Positionen, Ehrabschneidung, Existenzzerstörung durch unjudizierte Beschuldigungen sind durch das Grundrecht auf Meinungsäußerung de facto gedeckt. So wie 100.000 Nazis mit applizierten Judensternen im Namen der Demonstrationsfreiheit durch die Straßen marodieren durften, indes Menschen in Altersheimen einsam starben. Die Evaluierung gewisser Grundrechte nach den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts ist dringend zu fordern. Und dem augenzwinkernden linken Einverständnis mit politisch opportunen Gewalttätern ist Einhalt zu gebieten. Es interessiert mich nicht im Geringsten, ob ein Nazi oder ein Immigrant die Wiedereröffnung von Auschwitz anregt: Beide sind mit allen Mitteln des Rechtsstaats zu bekämpfen. Dazu bedürfte es freilich einer Justiz, deren Organe nicht wie konkurrierende Bürgerkriegsparteien gegen einander arbeiten. Und einer Exekutive, die ihr Versagen am Schutz der unglücklichen Landärztin nicht durch konsequente Verfolgung eines ehemaligen Fußballspielers abzuarbeiten versucht.

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