Sex und Beziehungen seit der Pandemie

Statt in eine Zeit des Aufatmens mündete die Pandemie in den nächsten Schockzustand. Krieg in Europa. Was es mit uns und unserer Beziehungskultur macht, dass es keine, sagen wir einmal, altvertraute Normalität mehr gibt, zeichnet sich auch schon ab.

von Liebes Leben - Sex und Beziehungen seit der Pandemie © Bild: Nathan Murrell

Was Covid-19, egal woher es kam, mit uns und unser Beziehungskultur machte, sei an einigen konkreten Folgewirkungen veranschaulicht:

1. Ein Rückgang des Vertrauens. Auf einmal war nichts wie gewohnt vorhersehbar oder planbar. Daraus entstand nach den Lockdowns insbesondere eine Angst vor dem Normalsten der Welt, vor Nähe, Berührung und Beziehung. Mit anderen Worten: Den Menschen fällt es seit der Pandemie und der zwangsverordneten Isolation deutlich schwerer, in soziale Beziehungen Vertrauen zu setzen und Bindungen einzugehen. Der Nachbar konnte ja infiziert sein, daher mal lieber gar nicht mit ihm reden. Jeder Händedruck war eine gefährliche Grenzverletzung!

2. Eine generalisierte Angststörung des Kollektivs. Denn angesichts von Umweltkatastrophen, Kriegen, Mutationen denkt man schon fast: Was kommt als nächstes?

3. Ein kollektiver Fatalismus bei den einen und die Fähigkeit zur Verdrängung des Unabänderlichen bei den anderen. Die Sorge und Verunsicherung sind groß, auch wenn sie noch so verdrängt und überspielt werden. Radikale Akzeptanz befreit von Unsicherheit, Angst und Pessimismus.

4. Ein Wertewandel. Die Pandemie hat die meisten von uns gelehrt, dass nichts, womöglich nicht einmal der engste Familien- und Freundeskreis, in der Not in Greifweite bleibt. Egoismus und Narzissmus florieren, da man sich in einer Krise wie der Pandemie ohnehin auf niemand mehr verlassen und ebenso wenig anderen beistehen und helfen kann.

5. Die körperlose oder immaterielle Beziehung und Liebe. Eine neue Cybernormalität, Cybernähe und Cybersex florieren immer mehr.

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6. Der radikale Rückgang der "normalen" Kommunikation. Durch die Isolation haben viele verlernt, sich zwanglos zu unterhalten. Die Bereitschaft, zu lächeln, bei Menschen außerhalb des engsten Kreises emotional mitzuschwingen, überhaupt eine Miene zu verziehen, nimmt ab. Mitarbeiterinnen werden kommentarlos gefeuert, Entscheidungen werden ohne Rücksprache getroffen, Worte werden eindimensional ohne die Urheberinnen interpretiert und in der Liebe wird radikal geghostet, anstatt sich miteinander auszusprechen.

7. Pseudokommunikation und -nähe. Die Menschen vertiefen sich mehr denn je in elektronische Kommunikationsmedien und kommunizieren über automatisierte Textbausteine und Bildsprache, Emojis, um sich vor Nähe zu hüten. Man ist in einer dauerhaften Dissoziation – abgespalten von der realen Situation.

8. Aufwertung von Partnerschaft und Familie. Eine durchaus positive Folge ist, dass man seit den Lockdowns mehr oder anders Zeit mit der Familie verbringt, sich auf schon vergessene Glücksmomente im Kleinen und Wertschätzung im Familiensystem besinnt. Intensivere Gefühle werden dadurch möglich.

9. Monogamisierung. Durch Ausgangsbeschränkungen und Lockdowns wurde der Fokus wieder auf die feste Partnerschaft gelegt und Außenbeziehungen eher vernachlässigt. Dadurch gibt es zwar mehr Konfliktpersonal, aber auch die Chance zu einer neuen konstruktiven Dialogkultur und Konfliktfähigkeit.

10. Die Sexualität in festen Beziehungen nahm bei den einen durch die räumliche Nähe ab, bei den anderen ergaben sich auch hier mit etwas Gestaltungswillen neue Dimensionen der Selbsterfahrung.

Und nun? Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt: Die drohende soziale Verrohung und Eiszeit können wir aufhalten, wenn, ja wenn wir uns wieder im wohlwollenden Dialog aufeinander zubewegen, anstatt uns immer weiter voneinander sprachlos zu entfernen.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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