ORF-eins-Managerin Lisa Totzauer: "Auf Augenhöhe mit dem Publikum"

Wie rettet man den öffentlich-rechtlichen ORF vor sinkenden Quoten, Einflussnahmen der Politik und der Abschaffung der Gebührenfinanzierung? ORF-eins-Managerin Lisa Totzauer im Gespräch über die vielen Baustellen am Küniglberg

von ORF - ORF-eins-Managerin Lisa Totzauer: "Auf Augenhöhe mit dem Publikum" © Bild: Copyright 2019 Matt Observe - all rights reserved.

Der Sender ORF eins ist in der Krise, die Quoten sinken stetig. Sie beginnen den Rettungsversuch mit der Reform des Vorabends. Warum ist die Zeit zwischen 17 und 20 Uhr so wichtig?
Sie haben vollkommen recht, wir müssen ORF eins in einer Krisensituation möglichst rasch umbauen. Insbesondere im Vorabend wurde lange nicht auf neue Herausforderungen reagiert. US-amerikanische Serien funktionieren nicht mehr annähernd so gut wie früher, ganz abgesehen davon, dass sie bei Anbietern wie Netflix, Amazon etc. bereits inflationär zu sehen sind und dass der öffentlich-rechtliche Aspekt oft fehlt. Die Fernsehnutzung in Österreich beginnt ab 17 Uhr massiv zu steigen, und im Vorabend entscheidet der Nutzer, wo er den restlichen Fernsehabend verbringt. Daher packe ich dort zuerst an. Aber das ist "work in progress", und wer Fernsehen macht, weiß, dass die Quote am Anfang hinuntergeht, wenn man so intensiv in Sehergewohnheiten eingreift, sich dann stabilisiert und dann wieder in die Höhe geht.

Von welchem Zeitraum sprechen wir?
Zumindest ein Jahr werden wir schon brauchen. Ich bin positiv überrascht, dass wir immer wieder über dem Sendeplatz liegen. Das zeigt mir, dass es richtig war, schnell und mutig zu handeln. Die Rückeroberung des Vorabends ist nicht nur für ORF eins, sondern für die gesamte ORF-Flottenstrategie enorm wichtig. Ich denke nie punktuell in Einzelformaten, sondern an das strategische Ziel des gesamten ORF. Unser Ziel ist, dass wir langfristig an jedem Wochentag bis 22 Uhr österreichisch programmieren. Denn diese durchgehende österreichische Programmfarbe macht uns gegenüber der Konkurrenz unverwechselbar und unschlagbar.

Warum ist es für die Flottenstrategie wichtig?
Es ist entscheidend, das Publikum nicht zwischen den Kanälen hin und her zu schicken, weil wir uns damit selbst im gemeinsamen Marktanteil, in der Gesamtreichweite, beschränken. Es muss sehr klar definiert sein, wie die Zielgruppe auf ORF eins ausschaut und wie die auf ORF 2. Man kann es sich vielleicht so vorstellen, dass eine Zuschauerin, die sich auf ORF 2 sehr wohl fühlt, auf ORF eins gar nicht ihre Heimat findet. Und umgekehrt. Jüngerer, kritischere, weltoffenere, digitalisiertere Milieus fühlen sich auf ORF eins wohl. Mit dieser Strategie schaffen wir es, in der Flotte einen breiteren Marktanteil zu erreichen.

»Das Publikum will nicht frontal belehrt werden, was richtig und was falsch ist«

Jüngere, modernere Menschen, die der ORF-eins-Zielgruppe entsprechen würden, verweigern das lineare Fernsehen schon. Ist es ein Ziel, sie wiederzugewinnen?
Wir haben ohne Zweifel die schwierigere Zielgruppe auf ORF eins, denn im Gegensatz zu ORF 2 sind die "Digital Natives" mit vielen anderen Formen des Fernsehens aufgewachsen die es vor 15,20 Jahren so noch gar nicht gab. ORF eins hat eine sehr hohe Akzeptanz in der Zielgruppe der Zwölf-bis 29-Jährigen, also bei den ganz Jungen. Schwierigkeiten sehen wir bei der Mittelklasse der 35bis 45-Jährigen. Wir sind gerade sehr intensiv dabei, zu analysieren, warum das so ist. Was machen wir digital, wie können wir die Zuschauer wieder binden, was sind die großen Identifikationstreiber, bei denen man einfach dabei sein muss? Diese Fragen beschäftigen viele Medienmacher. Es geht dabei auch um das Thema Kommunikation auf Augenhöhe. Das Publikum will nicht frontal belehrt werden, was richtig und was falsch ist. Es möchte miterleben, was verschiedene Möglichkeiten, Optionen und Herangehensweisen sind, und dann daraus selber die Schlüsse für sich ziehen.

Es gab vor allem nach der Wahl von Donald Trump weltweit Debatten über die Qualität des Journalismus, man müsse raus aus der Blase, hin zu den Leuten. Spielen diese Überlegungen eine Rolle?
Der erste Schritt zu Lösung eines Problems ist, es als solches überhaupt zu erkennen. Ich halte es für ganz wichtig, dass wir auch den Mut haben, Fehler einzugestehen. Das meine ich mit Kommunikation auf Augenhöhe und Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern. Denn das sind schließlich unsere Eigentümer, die sollen uns dauerhaft verstehen und wollen nicht ständig von uns belehrt werden. Statt den Zeigefinger zu strapazieren, sollten wir mehr das Ohr am Publikum haben. Wir machen oft zu wenig sichtbar, dass wir Bürgerund Bürgerinneninteressen zu vertreten haben. Der Entwicklungssprung vom Einweg-zum Dialogmedium ist von uns noch nicht geschafft. Es geht dabei um Meinungsvielfalt und Austausch mit dem Publikum auf Augenhöhe. Das sind Dinge, die wir jetzt ganz intensiv in Angriff nehmen.

Wie kann man sich diese verbesserte Kommunikation vorstellen? Bewusste Versuche, mehr politische Meinungsvielfalt einzubringen?
Es gibt nicht das eine Tool. Es ist eine Bandbreite von vielen Maßnahmen. Ich sage meiner Redaktion immer, wir können eine Geschichte aus einer Perspektive, aus zwei oder aus ganz vielen verschiedenen Blickwinkeln betrachten und sie wird immer anders aussehen. Das ist auch die Verantwortung, die wir als Öffentlich-Rechtlicher haben, die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden und Menschen auch die Möglichkeit zu geben, mit uns in Beziehung zu treten.

Konkret, was wäre so ein blinder Fleck, bei dem anzusetzen wäre?
Die jüngste Untersuchung, die wir mit unserem Partner Fehr Advice gemacht haben, hat uns gezeigt, dass wir in der Bevölkerung nicht zwangsläufig als parteiunabhängig wahrgenommen werden. Wir wissen aber auch, dass das für die österreichische Bevölkerung sehr wichtig ist, weil sie letztlich auch dafür Gebühren zahlt und damit bereit ist, für den ORF etwas abzugeben. Wir müssen uns also fragen, wo dieses Gefühl herkommt und was wir tun können, um es wegzubekommen. Transparenz ist da ein Thema, einerseits im Umgang mit Ressourcen, aber auch ehrlicherweise mit Fehlern, und da haben wir zweifellos Luft nach oben. Im Programm ist das einfacher umzusetzen. Wir können ohne Hemmungen sagen, das haben wir noch nicht fertig recherchiert und liefern wir nach. Ich sage meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch immer: Wenn uns ein Fehler passiert, können wir es transparent machen, sagen und erklären.

Das Element des Erratums ist im "Magazin 1" vorgesehen?
Selbstverständlich. Man kann durchaus zugeben, hier sind wir noch dran, da sind wir noch nicht so weit oder da sind wir einer Ente aufgesessen, und wir können transparent machen, wie es dazu gekommen ist. Journalismus ist ein laufender Prozess, kein einfaches Endprodukt. Wenn wir von Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit im Journalismus sprechen, dann ist es für uns auch wichtig, Meinung und Bericht zu trennen. Kommentare und damit Meinungen abzugeben gehört dazu und steht sogar in unserem gesetzlichen Auftrag. Aber wir müssen sie von den faktischen Berichten trennen, um Klarheit und Orientierung zu geben. Diesen Prozess habe ich in meinem Bereich schon eingeleitet.

... und der natürlich mit der Gebührenlegitimation zusammenhängt. Die Frage ist nur, wird sich das alles ausgehen, bevor politische Entscheidungen fallen, die nicht reversibel sind?
Ich kann Ihnen nicht sagen, ob sich das rechtzeitig ausgehen wird. Ich kann sagen, es ist für die Institution ORF ganz wichtig, dass wir es tun. Wenn ich jemanden frage: "Möchtest du eine Gebühr zahlen?", wird er immer Nein sagen. Aber wir können sehr wohl darüber diskutieren, was für die Österreicherinnen und Österreicher am ORF identitätsstiftend ist. Was ihnen wichtig ist. Da sind wir wieder in dem Bereich Unabhängigkeit, Augenhöhe, Vielfalt. Da sprechen wir von ganz vielen Dingen, die ich unter den Überbegriff Beziehungsarbeit setzen würde. Aber wenn ich eine Beziehung stärken will, muss ich auch etwas investieren. Sonst habe ich diese Beziehung nicht mehr.

Passiert das auch?
Ja.

Oder nur im Mikrokosmos ORF eins?
Das werde ich über ORF eins hinaustragen.

Ist die jetzige Form des ORF - finanzielle Ausstattung, Anzahl der Sender etc. - die einzig denkbare?
Die viel zentralere Frage ist, unabhängig von Details wie der Anzahl der Kanäle, ob wir in Österreich einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk wollen. Ist diese bewährte Institution als Träger unserer Meinungsbildung ein Teil unserer Identität? Und das ist jetzt keine politische Frage, sondern eine, die uns gesamthaft als Gesellschaft betrifft. Hat der ORF für uns einen demokratischen Wert, einen Gemeinsinn, und wollen wir dazu gemeinsam in einen Dialog treten? Wenn wir daran arbeiten, wird sich auch die Gebührenfrage nicht in dieser Form stellen. Es gibt einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, weil seine Schaffung rein marktwirtschaftlich nicht funktionieren würde. Es geht um das Herausarbeiten dieses gemeinsamen kollektiven Wertes.

Ist diese Unabhängigkeit überhaupt erreichbar, solange der ORF so stark von der Politik abhängt, u. a. mit der Folge, dass Journalisten bestimmten Parteien zugeordnet werden? Glaubwürdigkeit sieht anders aus.
Das ist komplex und komplexbeladen. Natürlich funktioniert personalisierte Berichterstattung über ORF-Moderatoren und Stars besser als eine abstrakte Geschichte zum Unternehmen. Und seit jeher werden immer wieder intern Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur leichteren Einordnung mit einem Stempel versehen und in Schubladen geschoben. Das spiegelt sich dann natürlich auch extern in der Berichterstattung wider, schließlich sind wir ein Medienund Kommunikationsunternehmen mit Außenkontakten. Und am Schluss sitzen wir dann mit etwas da, was wir alle nicht so toll finden, aber selber verursacht haben.

»Ein bisschen Einflussnehmen, jetzt im Wahlkampf, wäre es so wichtig...«

Aber es ist ja nicht alles komplett erfunden. Es gibt den Einfluss der Politik auf den ORF.
Ja, das ist relevant, und auch hier haben wir Aufholbedarf. Dieses Thema müssen wir im ORF angreifen, aber auch in der Bevölkerung, in der Gesellschaft, weil es erst dann auch von der Politik angegriffen wird. Dieses Thema betrifft uns alle und auf allen Ebenen.

Wie kann man dieses Problem konkret lösen?
Ich halte es für eine wichtige Frage der Unternehmenskultur, dass Menschen ehrlich, auf Augenhöhe und wertschätzend miteinander reden. Es geht um den Umgang miteinander, wie kommunizieren wir, wie ehrlich sind wir zueinander. Das heißt nicht, dass man dauernd zuckersüß zueinander ist. Es kann auch kritisches Feedback angebracht werden, aber so, dass es das Gegenüber auch annehmen kann, ohne sich selbst infrage gestellt zu fühlen. Es handelt sich dabei primär um eine Top-down-Führungsfrage und Managementaufgabe. Ab dem Moment, wo ich das konsequent in meinem Bereich vorgelebt habe, sehe ich, wie es mehr und mehr gelebt wird. Das ist wunderschön zu beobachten. Und dann gibt es natürlich auch Fragen, die die Institution an sich betreffen. Hier gilt es zu analysieren, welche Punkte uns so erscheinen lassen, als würden wir an einem politischen Gängelband hängen. Da fiele mir schon einiges ein, aber das lassen wir jetzt.

Sind die Verbindungen zur Politik zu überprüfen?
Manches liegt bei einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Natur der Dinge. Wir sind im Eigentum der Bürgerinnen und Bürger, vertreten durch den gewählten Nationalrat. Dass es hier natürlich Nähe und einen Austausch gibt und geben muss, das ist komplett normal. Aber auch hier gilt es miteinander zu definieren, was tut beiden Seiten gut und was nicht. Dieses Verhältnis der vernünftigen Distanz noch einmal zu analysieren und beidseitig zu definieren - das wäre fein, wenn das z. B. im Zuge eines neuen ORF-Gesetzes passieren würde.

Ist die Gebührenfinanzierung unabdingbar?
Wir sind in den letzten Jahrzehnten als ORF und auch als Gesellschaft in Österreich mit einer Gebührenfinanzierung nicht schlecht gefahren. Wenn wir uns den jetzigen Veränderungsprozess innerhalb des ORF und sogar die Diskussion über Gebühren anschauen, so hat das eine durchaus heilsame und wichtige Wirkung, weil es auch eine Form von Regulativ ist und ein reflektiertes Hinterfragen nie schadet. Wenn wir merken, dass die "willingness to pay" für den ORF erodiert, so ist das als Spiegel fast noch wichtiger als die Quoten. Denn dadurch merke ich, dass ich in die Beziehungsarbeit mit den Bürgerinnen und Bürgern, unseren Eigentümern, ganz viel investieren muss, um von ihnen weiter anerkannt zu werden. Natürlich kann es sein, dass eine toll abgesicherte Budgetfinanzierung - vielleicht sogar über Jahrzehnte und valorisiert -gebaut wird, um einen unabhängigen ORF abzusichern. Aber die Verlockung ist in weiterer Folge dann natürlich schon sehr groß, dass sich jemand irgendwann denkt: "Ein bisschen Einflussnehmen, jetzt, im Wahlkampf, wäre es so wichtig " Ich persönlich habe das Gefühl, dass uns eine Gebührenfinanzierung stärker an die Österreicher als entscheidendes Regulativ binden würde und sie sollte uns täglich in unserem Tun ermahnen, in die Beziehung ORF zu seinen Eigentümern zu investieren.

ZUR PERSON

Lisa Totzauer

Geboren 1970 in Wien, begann ihre ORF-Laufbahn 1997 im Aktuellen Dienst des Landesstudios Niederösterreich. 1999 wechselte Totzauer in die "ZiB"-Redaktion nach Wien, zuletzt als Chefin vom Dienst und Sendungsverantwortliche. Ab 2013 war Totzauer Infochefin ORF eins, seit etwa einem Jahr ist sie Channel-Managerin. Sie wird als Mitglied einer neuen ORF-Geschäftsführung gehandelt.

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