Eleonore Schönborn: "Heute ist alles viel schlimmer"

"Angst ist ein schlechter Lehrmeister", so die Mutter von Kardinal Schönborn, Eleonore Schönborn.

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Mutter von Kardinal Schönborn - Eleonore Schönborn: "Heute ist alles viel schlimmer"

Eleonore Schönborns Leben ist ein einziges großes Abenteuer. Ihre Aussicht auf "ein schönes Leben" wurde enttäuscht, als sie aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben wurde. In Vorarlberg baute sich für sich und ihre Familie - ihr bekanntestes Kind Christoph ist Kardinal und Erzbischof von Wien - eine neue Existenz auf. Am 14. April wird die überzeugte Europäerin 100 Jahre alt.

Die beinahe 100 Lebensjahre haben Eleonore Schönborn nichts anhaben können. Mit hellwachem Geist empfängt sie in Schruns im Montafon, wo sie seit 1950 lebt, ihre Gäste zum Interview. Um 16 Uhr, "weil um die Zeit bin ich immer daheim", sagte sie bei der Terminvereinbarung. Das Gespräch findet am 11. März statt, die Coronavirus-Krise hat Mitteleuropa im Griff, aber noch nicht so fest wie wenige Tage später: Besuche alter Menschen sind noch möglich, Österreichs Schulen und Grenzen sind noch offen. Eleonore Schönborns Leben hat viel mit dem Überwinden von Grenzen zu tun. Als sie 1920 geboren wurde, lebte die Monarchie noch in den Köpfen der Menschen und waren Demokratien etwas Neuartiges in Europa. Sie erlebte die Annexion der Tschechoslowakei durch die Nationalsozialisten, einen Weltkrieg und eine totalitäre Diktatur. 1945 musste Eleonore Schönborn wegen ihrer Volkszugehörigkeit die nordtschechische Heimat verlassen und in ein fremdes Land ziehen.

»Ich bin allergisch auf alles, was in die Nähe von Nationalismus kommt«

Sieht eine Frau, die das europäische 20. Jahrhundert mit allen Krisen und Höhepunkten miterlebt hat, die Probleme der Gegenwart gelassener? "Heute ist alles viel schlimmer", entgegnet Eleonore Schönborn und verweist auf den Nahen Osten. "Ich bin allergisch auf alles, was in die Nähe von Nationalismus kommt, das kann nur gefährlich werden", betont sie mit Blick auf ihre eigene Geschichte. "Und jetzt, wegen dieser Krankheit, die Wirtschaft wird nachlassen und infolge dessen werden Maßnahmen für den Umweltschutz nicht durchgesetzt, weil kein Geld da ist. Wir leben im Ungewissen, aber eines ist sicher: Ich warne vor Angst, Angst ist ein schlechter Lehrmeister", weiß sie.

Das persönlich prägendste Erlebnis für Eleonore Schönborn war "die Ausweisung aus der Heimat". Als "absolute Nazi-Gegnerin" hatte sie nicht damit gerechnet, noch dazu sei die Familie loyal mit den Tschechen verbunden gewesen. Durch die Benes-Dekrete wurde die deutsche Bevölkerung 1945 zum Staatsfeind erklärt und ausgewiesen, ihr Eigentum konfisziert. "Ich hatte im Krieg einen Großgrundbesitzer (den Maler Hugo-Damian Schönborn, Anm.) geheiratet mit der Aussicht auf ein schönes Leben", erzählt sie. Eine Existenz aufzubauen im tschechischen Schloss Skalka (bei Leitmeritz, Anm.), das war der Lebensplan, der durch die Ausweisung mit einem Schlag zunichtegemacht wurde. Dabei hatte Eleonore Schönborn verhältnismäßig Glück. Sie musste nicht wie viele andere unter Schikanen und Gewalt zu Fuß zur österreichischen Grenze marschieren: "Mein Vater war gebürtiger Österreicher, und ich hatte die Staatsbürgerschaft. Die österreichische Botschaft in Prag hat mir ein Auto zur Verfügung gestellt, und ich wurde nach Wien gefahren." Dort kam sie mit zwei kleinen Söhnen und ohne Mann an, der noch in den Nachkriegswirren feststeckte.

Von einem Zustand der Stabilität war ihr Leben damals weit entfernt. Von dem Moment an, als sie in Österreich ankam, habe sie immer nur das Naheliegende gemacht, schildert sie. Ihr Mann musste aufgrund einer Tuberkulose in eine Lungenheilanstalt in Davos. Während Eleonore Schönborn auf seine Gesundung wartete, musste sie immer wieder den Wohnort wechseln. Es waren reiche Leute, bei denen sie unterkam - Verwandte und Bekannte in Österreich und der Schweiz, also wieder Glück, "aber es war natürlich sehr unangenehm, wenn man eingeladen war, nichts dafür geben konnte und immer das Gefühl hatte, dass man Almosen kriegt".

Auf der Suche nach dem Glück

Im Alter von etwa 30 Jahren folgte die nächste weitreichende, wiederum sehr prägende Entscheidung: Eleonore Schönborn nahm ihre erste Erwerbsarbeit an: "Da mein Mann nach einigen Jahren noch immer nicht gesund war, habe ich gesagt, ich muss arbeiten gehen." Verbunden war dieser Entschluss mit einem erneuten Umzug. In Österreich herrschte damals große Arbeitslosigkeit, das ferne Vorarlberg war das einzige Bundesland, das durch die Textil- und Elektroindustrie im Aufschwung war. So suchte sie dort ihr Glück. Bei der Firma Getzner in Bludenz fand sie 1950 eine Anstellung als Chefsekretärin. "Das war mutig vom damaligen Geschäftsführer, denn immerhin hatte ich außer der Matura keine Ausbildung. Zuhause hatte ich meine eigene Sekretärin", schmunzelt Eleonore Schönborn. Bei Getzner war sie zuständig für die Gesellschafter, und sie hat die Gehälter der leitenden Angestellten verrechnet. "Ich wusste von jedem einzelnen, was er verdiente. Dafür wollte man jemanden haben, der fremd ist, der niemanden kennt", schildert Eleonore Schönborn.

Auch ihr Mann arbeitete nach seiner Genesung für Getzner. Als Fachberater in Sachen Design habe er einen modernen Schwung hineingebracht. "Die Firma Getzner war vorher ja ein Grobspinner", erzählt Eleonore Schönborn, "das wurde nach dem Krieg, also zu meiner Zeit, umgestellt: feine Garne, feine Stoffe für Blusen und Kleider. Der Petticoat wurde modern. Mein Mann hat in die Musterung eingegriffen und die Farbskalen richtig gestellt. Er war ein typischer Künstler und nie rechtzeitig bei der Arbeit. Ich musste ihn immer entschuldigen oder anrufen und sagen 'Die Webstühle stehen, du musst kommen'."

Im konservativen Vorarlberg der 1950er-Jahre, noch dazu im kleinen Schruns, war eine zunächst alleinverdienende, später geschiedene Frau mit schließlich vier Kindern das Gegenteil der Norm. Die Schrunser Bevölkerung hatte auch ihre Vorbehalte. Eleonore Schönborn sagt, sie habe davon nicht viel gespürt, weil sie den ganzen Tag bei der Arbeit war. Die Kinder aber hätten am Anfang ein bisschen gelitten, weil man sie spüren ließ, dass sie fremd waren. "Mein Ältester hat sich nichts gefallen lassen, der war groß und stark und hat ausgeteilt und war bei den schlimmen Buben schnell integriert. Und der zweite, der jetzt in Wien Kardinal ist, der hat die kleine Schwester immer an der Hand genommen, und dann sind sie gelaufen."

»Mit 60 ist man überhaupt nicht alt«

So richtig angekommen im Gemeindegeschehen ist Eleonore Schönborn erst in der Pension. Da begann sie sich politisch bei der Schrunser Ortspartei zu engagieren, die als Gegengewicht zur konservativen Politik der 1950er-Jahre gegründet wurde. Weil alles so bäuerlich und so gegen jeglichen Fortschritt gewesen sei, erklärt Eleonore Schönborn. Als erste Frau in der Schrunser Gemeindevertretung konnte sie einiges durchsetzen: "Wir haben erreicht, dass die Hauptschule nicht unten in die Wiese gesetzt worden ist, sondern ins bebaute Gebiet. Denn dieser Ort an der Umfahrungsstraße wäre unmöglich gewesen. Da wären die Kinder reihenweise über die Straße gelaufen, also das Blödeste, was man sich vorstellen kann." Eleonore Schönborn ist neben ihrem politischen Engagement eine Mitbegründerin des örtlichen Krankenpflegevereins. Sie gab das Pfarrblatt heraus und war Lektorin in der Kirche. "Mit 60 ist man überhaupt nicht alt", beteuert sie, "ich hab mich so gut gefühlt mit 60, ich hätte noch viel machen können."

Kinder, Enkel und Urenkel von Eleonore Schönborn sind weit verstreut. Den Ältesten, Philipp, habe es als Mechaniker und Fotograf in die ganze Welt getragen, die Tochter Barbara nach Deutschland, England und Frankreich. Der Jüngste, Michael, arbeitet für Film und Theater in Österreich und Deutschland. Christoph Schönborn ist gleich nach der Matura ins Kloster gegangen. "Zuerst hab ich geweint, ich sag's ehrlich, weil er in allen Lebenssituationen eine große Hilfe war. Priester, das hab ich gewusst, aber als er mir gesagt hat, er gehe ins Kloster, dachte ich, dass er für immer weg ist. Das war aber gar nicht so, im Gegenteil, ich hab' sehr viel von ihm gehabt, weil er seine Ferien immer mit mir verbracht hat."

Dass alle Kinder gerne zurück nach Schruns kommen, ist Eleonore Schönborn wichtig. Sie wollte nach allem, was passiert war, für die Kinder einen Ort schaffen, wo sie sich zuhause fühlen. Das Haus, in dem sie heute noch lebt, hat sie 1960 gebaut. "Als ich anfing zu verdienen, habe ich als erstes einen Bausparvertrag abgeschlossen", erzählt sie, "wenn man ein Flüchtling ist, macht man das." Denn, betont sie, man gehe nicht von selber weg, man gehe nur weg, wenn man muss. Und umso mehr habe man die Sehnsucht, wieder ein Zuhause zu haben, wo sich die Familie treffen kann. "Heimat ist dort, wo man angenommen wird", weiß sie.

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