Kurz war nicht an allem schuld

Ein Ressort-Autist versucht sich streng subjektiv an der Jahresbilanz und kann dabei das vertraute kulturelle Revier nur streifen: Versagt wurde allseits, und dass die Koalition verheerend gegen einander regierte, hat nicht nur mit türkisem Marketing zu tun.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Unter regulären Bedingungen bliebe mir, dem Ressort- Autisten, wohl nur eine ehrenhafte Option: die mir hier zugedachte Aufgabe wegen Unzuständigkeit zurückzulegen. Aber was ist in diesen Zeiten schon regulär? Lassen Sie mich also zurückblicken und mit einer Sie vielleicht nicht überraschenden Versicherung einsteigen: Meine Verzweiflung über den Verlust des Kanzlers Kurz verharrt im kontrollierbaren Bereich. Meine Begeisterung über das allseitige charakterlose Nachtreten aber ebenfalls. Kurz hat zu Beginn der Pandemie gut reagiert, und dass dies in den weiteren Verläufen anders wurde, ist zu je 50 Prozent ihm und der Gesundheitsbehörde samt dem nunmehr zweiten überforderten Ressort-Inhaber zu verbuchen. Mein Respekt also vor Alexander Schallenberg, der es politisch nicht überlebt hat, sich nicht wie ein Opportunist sekundenschnell vom Vorgänger abgesetzt zu haben. Dann mein Bedauern, dass das zweite kompetente Regierungsmitglied, Heinz Faßmann, einem großen Bedürfnis der steirischen Provinzpolitik zum Opfer fallen musste. Und schließlich mein sorgenvolles Missfallen über das (meines Erachtens ungerechtfertigte) Erstarken des Koalitionspartners.

Wenn ich nun so begänne: Lieber wäre mir, der Mob der 40.000 plus, die an den Wochenenden in den Straßen marodieren, bestünde aus nichts als Nazis. Weil man dann wenigstens wüsste, mit wem man nichts zu tun haben will. Dann würde ich das Diktum eilig zurücknehmen, weil ja nur kein Nazi ein guter Nazi ist (deutlicher will man nicht werden). Aber auch in diesem Fall bliebe die irritierende Gewissheit, dass mir die wollstrumpfstrickenden Globuli- Sortierer, die ährenbekränzt hinter den Nazis herwanken, nicht übermäßig sympathischer sind. Das liegt daran, dass solche Erscheinungen in unsereinem – Zuspätausläufer der hierzulande marginalen Achtundsechziger-Bewegung – einen unterdrückbaren Jagdtrieb wecken.

Ich bin nämlich der Überzeugung, dass die beiden Demonstrantengruppen zwar gottlob Entscheidendes trennt. Dass sie aber auch Entscheidendes verbindet. Selbst der grüne Vizekanzler Kogler hat die Nähe der Strumpfstricker zu seiner Bewegung kürzlich schmunzelnd in nur halbe Abrede gestellt, aber ich will hier auch keineswegs generalisieren: Unter den Parteigründern fand sich der Waldschrat Kaspanaze Simma ebenso wie die Intellektuelle Freda Meissner-Blau und, eine Art Synthese aus beiden, der Publizist Günther Nenning (mit beiden war ich so gut befreundet wie mit dem umgangsoriginellen Gründervater Herbert Fux). Aber seither sind der Bewegung Eva Glawischnig und Birgit Hebein unterlaufen, nicht zu reden von Madeleine Petrovic, die der Impfpsychopathenpartei soeben eine Grußadresse zukommen ließ.

Und auch vom Einzelfall abgesehen lassen sich die Gemeinsamkeiten valide aufzählen. Beide verbindet ein aggressiver Regulierungswahn bis zur Zensur an Andersdenkenden bei gleichzeitiger Ausübung der Selbstjustiz gegen die Grundlagen des Rechtsstaats. Wofür sich beide der Massenmobilisierung über soziale Medien be dienen. Dazu eine diffuse, intellektuellen- und wissenschaftsfeindliche Naturvereinnahmung, die sich in der Blut-und-Boden- Ideologie der Nazis manifestiert hat und heute zum Konsum von Bitterstoffen an Stelle medizinisch beglaubigter Therapien aufruft. Ihre Entsprechung findet sie in der pauschalen Technik-Verteufelung der Grünen. Beiden gemeinsam ist schließlich die aggressive Ablehnung der Eliten.

Wenden wir uns zur Untermauerung nun der Grün-Fraktion innerhalb der Regierung zu. Sie stand Ende Jänner 2021 am Ende ihrer Legitimation: Innenminister Nehammer, der Kogler zuvor wohlwollende Begutachtung zugesichert hatte, ließ in der Nacht gut integrierte Kinder aus den Betten holen und in ein ihnen fremdes Land verschleppen. Die Grünen wagten damals im Parlament nicht einmal für eine Resolution zur Rückführung die Hand zu heben.

Aber Justizministerin Zadic war in Karenz und Kogler führte das Ressort. Einen Monat später nahm die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwalt unter Beteiligung gut befütterter Medien die Ermittlungen gegen die ÖVP wegen Falschaussagen im Ibiza-Ausschuss auf. Nicht erst seit damals bot die Justiz das Bild eines Kampfplatzes feindlicher Bürgerkriegsparteien. Also ein übles Bild, wenn man sich jüngste gerichtliche Serienfreisprüche und -rehabilitationen (etwa des Justiz-Sektionschefs Pilnacek) vergegenwärtigt. Von denen die meisten Betroffenen, deren Existenzen zerstört waren, freilich nicht mehr profitieren konnten.

Vor Gericht werden derartige Causen erst nach Ewigkeiten verhandelt. Aber via „Shitstorm“ fallen die Urteile unverzüglich und werden gleich standrechtlich vollstreckt. Das von der Justizministerin zögerlich auf den Weg beförderte Gesetz gegen den Hass im Netz ist eine Karikatur, denn es betrifft nur große, kommerzielle Anbieter. Wir konnten es soeben an den Problemen des TV-Ansagers Rafreider studieren: Erst wurde er nach Vorwürfen einer früheren Lebensgefährtin für ein halbes Jahr dienstfrei gestellt. Das wäre mehr als gerechtfertigt gewesen, wenn die Vorwürfe gestimmt hätten. Die Ermittlungen wurden aber eingestellt, was in einem Rechtsstaat zur Kenntnis zu nehmen ist. Dass Rafreider in der Zeit der erzwungenen Unsichtbarkeit in psychische Probleme geraten sein könnte, war kein Thema, als das Pack nun einen missglückten Minutenauftritt für ein digitales Tribunal nutzte. Rafreider konnte eine Erklärung von tragischer Dimension beibringen, wurde aber erst dann zu weiteren sechs Monaten Unsichtbarkeit samt Gehaltsverlust begnadigt, als sich die Stimmung „im Netz“ unter dem Einfluss Prominenter zu drehen begann. Hier – und nicht nur gegen Telegram – ist einzuschreiten. Nicht nur gegen den Mob in den Straßen, auch gegen den Mob im Netz.

Und ohne Sympathien auf die jetzt gestürzten Kanzlerbuben zu verschwenden: Noch ist nicht einmal Anklage erhoben, abgesehen davon, dass mir private Korrespondenzen prinzipiell schützenswert erscheinen. Auch halte ich für unglaubwürdig, dass ein auf rasantem Erfolgsweg be findlicher Politiker 1,3 Millionen veruntreuen lässt, um mittels Umfragen, die sich von denen anderer Institute bloß innerhalb der Schwankungsbreite unterscheiden, sinnlos den Eingangsbereich der Wiener Linien zu vermüllen. Insgesamt halte ich es für überdenkenswert, inmitten einer längst nicht bezwungenen Pandemie die größte Regierungskrise der Zweiten Republik auszulösen, damit sich einer von zwei rivalisierenden Koalitionspartnern kurzfristig der stärkere dünken darf.

Auch der Ikonisierung der Umweltministerin folge ich nicht. So verdienstvoll es ist, wenn sich junge Menschen über ihre Zukunft Gedanken machen – kampierende Teenies sind weder befugt noch in der Lage, über gesetzlich festgelegte Bauprojekte zu befinden (auch ich bin das nicht). Dass ein patscherter Partei-Advokat versehentlich zwei Halbwüchsigen mit dem Gericht droht, ist deprimierend, aber besser als die Zwangsräumung. Insgesamt wird mir angst vor der zunehmenden Radikalisierung der Debatte. Gleich als Greta Thunberg vor dem schwedischen Reichstag zu kampieren begann, wurden Pendler zu Schädlingen erklärt, Kinderchöre identifizierten die Oma als alte Umweltsau, die Forderung nach augenblicklicher Stilllegung der deutschen Kohlegruben hätte Massenarbeitslosigkeit nach sich gezogen, und der Gründer der Umweltbewegung Extinction Rebellion musste wegen Verharmlosung der Shoa demissionieren, womit sich der Kreis schließt. Als dann Greta Thunberg erstmals zarte Sympathien für die Kernkraft artikulierte, ahnte ich, was sich mittlerweile aufbaut: Atomschieber geben händereibend den guten Onkel für besorgte Halbwüchsige.

Bleibt fast kein Platz mehr für den Aspekt der Elitenfeindlichkeit. Kein mir bekannter Künstler will mit der grünen Fraktion noch etwas zu tun haben, denn Kunst rekrutiert sich einzig aus der Elite der Höchstbegabten. Die Inthronisierung Ulrike Lunaceks zur grünen Kunststaatssekretärin war ein dröhnendes Signal der Verachtung. Dass man sich die rote Andrea Mayer entlehnt hat, war Rettung im letzten Moment, denn die favorisierte grüne Kultursprecherin Blimlinger erklärte jüngst, mit Theaterschließungen kein weiteres Problem zu haben. Und eine überschaubar begnadete Schriftstellerin, die an der dafür offenbar befugten Wiener Angewandten Literatur lehrt, lässt wissen, der „Kanon“ sei ein koloniales Relikt alter, weißer Männer. Unterstelle er doch schamlos, dass Homer, Shakespeare, Brecht oder Bachmann die Maßstäbe gesetzt hätten, ja: dass man Werke dieser Personen gar gelesen haben müsse. Dass man als Schriftsteller nicht mehr schreiben können muss, war mir bewusst. Dass man auch nicht mehr lesen können muss, ist neu, aber konsequent.

Mit anderen Worten lässt mich das zitternde Erstarken der SPÖ auf das Wiederaufleben der Großen Koalition hoffen.