Ferdinand von Schirach: "Schreiben ist keine Therapie"

Der Autor über seinen Roman "Tabu“ und das Tabu, Enkel eines Nazi-Gauleiters zu sein

Der Anblick des toten Vaters, er hatte sich mit zwölf Bleikugeln "das Gesicht weg-gerissen“, zerstört Sebastian von Eschburgs Kindheit. Er wird Fotokünstler. Als eine junge Frau aus der Kunstszene verschwindet, wird Sebastian des Mordes angeklagt. Das erzählt Ferdinand von Schirach, 49, im Kriminalroman "Tabu“ (Piper, 18,50 Euro). Der Berliner Anwalt und Bestseller-Autor hat, wie seine Figur, schwer am familiären Erbe zu tragen. Sein Großvater, der Wiener Nazi-Gauleiter Baldur von Schirach, jüngst wieder spukhaft im Gespräch: Nach seiner Haftentlassung anno 1967 soll ihm Philharmoniker-Funktionär Helmut Wobisch den Orchester-Ehrenring überbracht haben.

von Ferdinand von Schirach © Bild: imago/Müller-Stauffenberg

NEWS: In Ihrem Roman "Tabu“ verarbeiten sie zahlreiche Tabus: Polizisten foltern bei Vernehmungen, der Anwalt nennt Polizisten "Nazis“. Wollen Sie solche Dinge enttabuisieren?
Schirach: Ich will nur eine Geschichte erzählen. Was daraus gemacht wird, werden wir sehen. Als mein Buch "Der Fall Collini“ veröffentlich wurde, habe ich mir auch nicht vorstellen können, dass danach das Bundesjustizministerium eine Historikerkommission einsetzt, um die Vorgänge im Ministerium aufzuklären. Bücher sind oft klüger als ihre Autoren.

NEWS: Ist Foltern bei der Polizei wirklich kein Tabu mehr?
Schirach: Ja, Folter war lange Zeit bei uns ein völliges Tabu. Mittlerweile ist es aufgeweicht, zumindest insoweit, als wir beginnen, über die Absolutheit des Folterverbotes zu diskutieren.

NEWS: Mit Ihnen über Ihren Großvater Baldur von Schirach zu sprechen, haben Sie quasi zum Tabu erklärt. Als Sechsjähriger haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen. Können Sie sagen, ob ihm der Philharmoniker Helmut Wobisch wirklich den Orchester-Ehrenring überbracht hat? Und besuchen Sie deswegen nicht die Wiener Staatsoper, wie Sie sagten?
Schirach: Ich werde mich nicht mehr zu meinem Großvater äußern. Die Gründe habe ich sehr ausführlich in einem Essay im "Spiegel“ beschrieben. Aber zu Ihrer Frage: Ich habe nicht die geringste Ahnung von diesem Ring - es interessiert mich auch nicht.

NEWS: Anwalt Biegler im Roman leidet an Burnout, fürchten Sie das? Kann man sich Ängste von der Seele schreiben?
Schirach: Ich weiß nicht, ob man sich "etwas von der Seele schreiben“ kann. Ich versuche das auch nicht. Ich schreibe Geschichten, es ist keine Therapie, eher das Gegenteil.

NEWS: Stimmt es, dass auch Sie Synästhetiker sind wie Ihre Hauptfigur Sebastian von Eschburg, also Buchstaben in verschiedenen Farben sehen?
Schirach: Ich bin selbst Synästhetiker und ich bin als Kind oft mit auf die Jagd gegangen. Aber mehr werde ich Ihnen nicht verraten.

NEWS: Stört das nicht?
Schirach: Das stört überhaupt nicht. Es ist wie Atmen. Ich nehme es nur dann bewusst wahr, wenn ich mich darauf konzentriere.

NEWS: Im Roman heißt es, "Wirklichkeit und Wahrheit sind zwei verschiedene Dinge“, kann man die Wahrheit gar nicht nachweisen?
Schirach: Die Wirklichkeit können wir nicht erfassen, sondern jeder von uns begreift nur seine eigene Wahrheit. Jeder Mensch hat eine eigene Perspektive. Sie sehen von Ihrem Platz aus völlig andere Dinge, wie ich das tue. Selbst wenn wir nebeneinander sitzen, sehen wir zwangsläufig anderes, weil wir verschiedene Menschen sind.

NEWS: Wie ist das bei Gericht?
Schirach: Bei Gericht ist es noch komplizierter. Dort glaubt niemand, dass er die Wirklichkeit ermittelt hätte, also das, was tatsächlich geschehen ist. Wir können von einer "prozessualen Wahrheit“ sprechen, also nur das, was durch den Filter der Strafprozessordnung geht, hört und sieht das Gericht. Wenn ein Beweis illegal erlangt worden ist, gibt es ihn für das Gericht nicht. Wenn ein Mann unter Folter den Mord gesteht und dieses Geständnis das einzige Beweismittel ist, muss er freigesprochen werden - auch wenn er in Wirklichkeit der Mörder war.

NEWS: Gibt es keine gerechten Urteile?
Schirach: Im Gegenteil. Würden wir alle Beweise zulassen, würden wir also die Illegalität ins Gericht tragen, wären unsere Urteile ungerecht. Gerichte müssen sich nach Regeln richten und das hat einen guten Grund: Die Regeln, also die Prozessordnungen, haben die Aufgabe vorschnelle Emotionen aus dem Gerichtssaal herauszuhalten. Vielleicht könnte man daher sogar sagen, dass die Strafprozessordnung das wirkungsvollste Werk der Aufklärung überhaupt ist: Ein Strafgericht befasst sich mit dem Dunkelsten im Menschen und hat dazu eine Methode erfunden, die zeigt, zu welcher methodischen Helligkeit Menschen fähig sind. Auf die Abgründe von Exzess und Entgleisung, Ausbruch und Gewalt reagiert das Gericht eben nicht mit Wut oder Rache, sondern - zumindest im Idealfall - mit abgewogener, durchdachter Bestrafung. Nur durch die Regeln wird ein Urteil möglich, das einer aufgeklärten Gesellschaft auch gerecht wird.

NEWS: Ist es dem Anwalt von Schirach wichtig, zu wissen, ob sein Klient schuldig ist?
Schirach: Das spielt wirklich keine Rolle. Ich weiß oft selbst nicht, ob der Mandant die Straftat verübt hat. Ich möchte es auch meistens nicht wissen. Es darf nicht meine Aufgabe sein, über Schuld oder Unschuld zu entscheiden. Der Staatsanwalt klagt an, der Anwalt verteidigt, der Richter spricht das Urteil. Ein Strafprozesses ist ein fein austariertes System. Mit einem urteilenden Verteidiger wäre es damit vorbei. Fehlurteile wären die Folge, die Urteile würden ungerecht.

NEWS: Wie geht der Bestseller-Autor mit Verrissen um?
Schirach: Die meisten Schriftsteller sind sich eben nicht sicher mit der Welt, ihre Bücher entstehen aus dieser Unsicherheit, aus dem Bedürfnis die Welt zu begreifen. Auf einem bestimmten Niveau gibt es ja keinen objektiven Maßstab, ob ein Buch gut ist oder nicht. Der Schriftsteller ist sich also weiter unsicher mit sich selbst. Jede Kritik verletzt daher mehr, als sich der Kritiker das vorstellen kann. Und dann gibt es natürlich furchtbare Kritiker, die ein Buch nur verreißen, weil der Schriftsteller Erfolg hat. Manche von ihnen geben das auch öffentlich zu. Das verletzt dann nicht, es ist nur albern.

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