Generation Verlierer

Nach den Pensionsreformen zählt man ab Jahrgang 1964 zur Generation der Verlierer

Wer ab dem Jahr 1964 geboren ist, muss -unabhängig vom Letztverdienst -befürchten, beim Rentenantritt bloß mit der Mindestpension dazustehen. Und das, obwohl die Pensionsexperten die in den vergangenen Jahren vorgenommen Reformen für sinnvoll halten. Sie gehen ihnen sogar nicht weit genug.

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Altersvorsorge - Generation Verlierer

Sie ist erst 21 Jahre alt, und schon drückt eine schwere Last auf ihre jungen Schultern. In 44 Jahren kann Jacqueline T. regulär in Pension gehen. Nicht, dass sie sich besonders darauf freuen oder darauf warten würde. Jacquelines Berufsleben steht nach sechs Jahren -inklusive Lehre -noch am Anfang, und die Handelsangestellte ist überzeugt davon, dass sie in dieser langen Zeit noch haufenweise Jobwechsel, Weiterbildungen und Karrieresprünge vor sich hat. Aber sie erwartet auch Enttäuschungen: "Ich gehe nicht davon aus, dass ich im Jahre 2061 noch eine Pension bekommen werde", sagt die Obersteirerin.

Damit könnte sie leider recht haben. Denn die Pensionsreformen seit dem Jahr 2000 beinhalten deutliche Verschlechterungen für die künftigen Rentenbezieher. Waren bislang die besten 15 Jahre ausschlaggebend für die Pensionshöhe, gilt nun der Durchschnitt aus allen Beitragsjahren. "Im Prinzip wird es Leistungssenkungen für alle Personen mit weniger als 45 Versicherungsjahren oder stark schwankendem oder steigendem Einkommen geben", sagt Wifo-Experte Thomas Url. Damit wächst eine ganze Generation an Pensionsverlierern heran.

© Michael Mazohl Josef Gaschl war Polizist "mit Leib und Seele" und legt mit 61 Jahren die Uniform nur deshalb ab, um mehr für die Familie da sein zu können

Denn jeder Selbstständige, jeder, der in einer saisonabhängigen Branche wie dem Tourismus arbeitet, jeder, der lange studiert hat, jeder, der arbeitslos wird, jeder, der Teilzeit arbeitet, und jeder, der einfach nur mit einem geringem Gehalt gestartet und stetig mehr verdient hat, wird Reduktionen beim Pensionsbezug hinnehmen müssen (siehe Rechenbeispiele rechts). Bei diesen Gruppen kann das laut Url durchaus dazu führen, dass sie nur die Mindestpension bekommen. Oder nicht einmal die: "Die aktuelle Untergrenze von 889,84 Euro im Monat gilt nur für Alleinstehende." Theoretisch kann jemand auch nur eine monatliche Pension von ein paar Euro bekommen. Denn die Aufzahlung aufs "Existenzminimum" gibt es nicht, wenn der Partner ein Einkommen hat.

Keine privaten Termine

Solche Sorgen kennt Josef Gaschl zum Glück nicht. Der Niederösterreicher fällt noch in die alte Pensionsregelung und geht nach einer Mechaniker-Lehre, Bundesheer und 40 Jahren bei der Wiener Polizei mit 1. April in den wohlverdienten Ruhestand. "Mit einem weinenden und einem lachenden Auge", wie der Postenkommandant der Polizeiinspektion Stiftgasse betont. Immerhin sei er "Polizist mit Leib und Seele". Gaschl: "Ich sehe die Menschen grundsätzlich nicht als bösartig oder schlecht an -und bislang bin ich nur sehr selten enttäuscht worden." Dass er nun seinen Hut nimmt, sei dem Gefühl geschuldet, endlich wieder mehr für die Familie da sein zu wollen: "99 Prozent meiner privaten Termine wurden über den Haufen geworfen, weil jemand angerufen hat und ich zur Polizeiinspektion nach Wien gefahren bin."

»Der hohe Anstieg an Frühpensionisten im Vorjahr kam nicht ganz unterwartet«

Das alles wird nun der Vergangenheit angehören, weshalb der Exekutivbeamte neben Familie und seiner Tätigkeit als Dorferneuerungsobmann bereits weitere Herausforderungen sucht: "Ich plane eine Panamerica-Tour mit dem Motorrad und möchte ein zweites Mal den kompletten Jakobsweg vom Waldviertel nach Santiago de Compostela mit dem Fahrrad bewältigen." Dass der 61-Jährige "mit kleinen Abschlägen" schon vor dem gesetzlichen Pensionsalter von 65 in Rente gehen kann, macht das Schicht-und Schwerarbeitergesetz möglich, das auch auf die Bedürfnisse der Exekutive mit ihren unregelmäßigen Arbeitszeiten und Nachtdiensten abzielt.

Doch was bei Gaschl nachvollziehbar erscheint, bereitet den politisch Verantwortlichen Kopfzerbrechen. Denn nach wie vor liegt das durchschnittliche Pensionsantrittsalter laut Pensionsversicherungsanstalt bei 61,1 Jahren bei Männern (regulär 65) und 59,1 (regulär 60) bei Frauen. Selbst nach faktischer Abschaffung der Frühpension (nunmehr Korridorpension) boomen die vorzeitigen Ruhestände.

Laut Sozialministerium wählten 2016 lediglich 49 Prozent die normale Alterspension. 21 Prozent gingen in Invaliditätspension, 14 Prozent nahmen die Hacklerregelung und neun Prozent die Korridorpension, elf Prozent wählten andere Varianten.

Besonders unter Beamten ist der vorzeitige Rentenantritt nach wie beliebt.

Laut dem Pensionsexperten Bernd Marin gehen bis zu 98 Prozent aller Pragmatisierten früher in Rente als Arbeitnehmer im Privatsektor. "Der hohe Anstieg an Frühpensionisten im Vorjahr kam allerdings nicht unerwartet", erklärt Forscher Url: "Immerhin gab es 2014 in dem Bereich Verschärfungen." Url weiter: "Was wir nun als Welle empfinden, ist nichts anderes als eine Aufsummierung der Gruppe, die aufgrund der Neuregelung mit dem Pensionsantritt ein bis zwei Jahren zuwarten musste, auf die Gruppe, die 2016 sowieso gegangen wäre."

Bonuspunkte für Fleißige

Insgesamt sei der Staat beim Abbau von Frühpensionisten aber "gut unterwegs", so der Wifo-Experte. Man konzentriere sich auf Fälle von Invalidität und bemühe sich um eine Wiedereingliederung der Betroffenen in den Arbeitsprozess. Mit dem Auslaufen der abschlagsfreien Hacklerregelung 2014 (Anmerkung: Männer und Frauen konnten nach 45 bzw. 40 Beitragsjahren vor dem gesetzlichen Pensionsalter in Rente gehen) sei eine weitere Lücke geschlossen worden. "Die Abschläge in der Korridorpension (der früheren Frühpension) sind mit fünf Prozentpunkten pro Jahr so massiv, dass man sich überlegt, auch nur ein Jahr früher aufzuhören."

Wer allerdings über den 65. Geburtstag hinaus arbeite, dürfe sich im Gegenzug über einen Bonus von 1,86 Prozent freuen. Konterkariert werden diese Bestrebungen freilich mit dem Weiterlaufen der Altersteilzeit, die einer De-facto-Frühpension gleichkommt.

Doch während es rund um die Renten genügend offene Baustellen gibt, üben sich die Minister Alois Stöger (Soziales, SPÖ) und Hans Jörg Schelling (Finanzen, ÖVP) in semantischen Wortgefechten. So feierte Stöger den Anstieg des Pensionsantrittsalters von 60,2 auf 60,3 Jahre, worauf Schelling den Regierungskollegen darauf hinwies, dass der Hauptverband der Sozialversicherungsträger weiterhin ein Alter von unter 60 bei Rentenbeginn registriere. Von "geschönten Statistiken" und "alternativen Fakten" war die Rede.

So viel bekommen Sie wirklich

© Quellen:PVA, Eigene Berechnungen, NewsInfografik Merridee Stein Fast niemand hat heute ein Problem damit, für seine Pension 45 Jahre lang zu arbeiten. Schwierig wird es jedoch, wenn man dabei auch noch tunlichst jede Art von Unterbrechung oder Veränderung vermeiden sollte. Doch wie stark reduziert sich meine Pension tatsächlich, weil ich nach der Geburt meiner Kinder meine Arbeitszeit halbiert habe? Wie viel Rente bekomme ich, wenn ich nach Abschluss meines Studiums zwar gleich einen Job bekomme, diesen 21 Jahre später aber wieder verliere? Und wie viel mehr ist es, wenn doch alles glattläuft? Eine 21-jährige Frau und ein ebenso alter Mann leben zwei Lebensverläufe vor.

Der Grund für die Differenzen dürfte freilich in den zwei unterschiedlich rechnenden Expertengruppen und ihren Definitionen der Pensionsarten liegen. Wer als invalide gilt und in Rehabilitation geschickt wird, kann für die einen zu den Pensionsbeziehern gehören -für die anderen eben nicht. Aber Poltern gehört nun einmal zum politischen Geschäft.

Ungewollte Arbeitskraft

Den von den Pensionsreformen Betroffenen bringen diese Zahlenspiele freilich herzlich wenig. Vor allem für Frauen schaffen die Reformen eine zusätzliche Veränderung. Statt mit bisher 60 können sie künftig erst mit 65 Jahren in Pension gehen. Diese Änderung betrifft alle ab 1964 Geborenen, deren Regelpensionsalter in Halbjahresschritten stufenweise angehoben wird. Die Mutter von Jacqueline T., die 42-jährige Inge, weiß noch gar nichts von ihrem Glück, noch weitere 23 Jahre Berufstätigkeit vor sich zu haben -tunlichst ohne Jobverlust, Branchenwechsel sowie Teilzeitbeschäftigung. Parameter, die die Arbeiterin zum Teil gar nicht mitbestimmen kann.

Viele andere Frauen dürften über diese Änderungen freilich gar nicht so unglücklich sein. So hat das frühere Pensionsantrittsalter einigen auch Nachteile gebracht, denn fünf gutbezahlte Berufsjahre können bei der Rentenhöhe schmerzlich fehlen. Nicht umsonst liegt der Durchschnittsbezug von Frauen laut Pensionsversicherungsanstalt bei 878,01 Euro, der von Männern hingegen bei 1.418,94 Euro.

Auch Barbara W. hätte liebend gerne über das 60. Lebensjahr hinaus gearbeitet. Sie war nach 20 Jahren, in denen sie sich um ihre vier Kinder gekümmert hatte, erst spät wieder ins Berufsleben eingestiegen und wollte nach 32 Beitragsjahren noch zwei Jahre ans gesetzliche Pensionsalter anhängen. Dabei ging es ihr gar nicht so sehr ums Geld: "Ich war nie arbeitsmüde und habe mich dort wohlgefühlt." Das Versicherungsunternehmen, für das die Niederösterreicherin tätig war, sah das anders und bestand auf einen zeitgerechten Pensionsantritt.

Auch im beruflichen Umfeld erntete sie Unverständnis: "Ich habe, außer von den engsten Kollegen, oft gehört ,Ich wäre froh, wenn ich schon in Rente gehen könnte'." Und so hatte sie, sagt die nunmehr 61-Jährige, "zum Schluss nur noch das Gefühl, man will mich nicht mehr". Der Umstieg in die von so vielen so sehnlich erwartete Pension ist der Sachbearbeiterin nicht leicht gefallen: "Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, bis ich meinen neuen Status akzeptieren konnte." Jetzt verbringt sie viel Zeit mit ihrer großen Familie, passt auf die fünf Enkelkinder auf und geht ihren zahlreichen Hobbys nach: "Oft muss ich vereinbarte Treffen wieder absagen, weil es sich einfach nicht ausgeht."

Eine Milliarde Euro im Jahr

Dass es häufig gar nicht im Ermessen der Betroffenen liegt, wann sie tatsächlich in Pension gehen, sieht auch Wifo-Experte Url als Manko. Er rät den Unternehmen daher, ihre Arbeitsbedingungen so zu ändern, dass eine Weiterarbeit für Ältere -über das Pensionsalter hinaus - möglich ist: "Das kann eine größere Schrift am Bildschirm genauso sein wie ein Verbot für Ältere, schwer zu heben, oder eine Umschulung auf einen anderen Arbeitsplatz." Der Politik rät der Forscher vor allem, die Kosten für ältere Arbeitnehmer über eine Senkung der Lohnnebenkosten herunterzufahren: "Bekommt der Arbeitgeber einen monetären Anreiz, kann das einen flächendeckenden positiven Einfluss haben."

Bis das so weit ist, begrüßt Url aber die Reformen bei den Renten: "Jedes Jahr längere Berufstätigkeit bringt dem Staatshaushalt jährlich eine Milliarde Euro." Die zusätzliche staatliche Finanzspritze für Pensionen von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (aktuell 10,48 Milliarden Euro), die in den kommenden zehn Jahren weiterhin anfallen wird, sei in diesem Zusammenhang "zwar eine ansehnliche Größe, aber auch nichts, was das System zum Zusammenbruch bringt".

© Heinz Stephan Tesarek Barbara W. war mit 60 "noch ganz und gar nicht arbeitsmüde", die Firma wollte sie dennoch zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Pension sehen

Pensionsforscher Marin ist mit den Veränderungen bei den Pensionen prinzipiell zufrieden, auch wenn sie ihm nicht weit genug gehen: "Das Pensionssystem kann nicht ein für alle Mal gerettet werden, weil wir gar kein selbststeuerndes System haben." Das liege vor allem daran, dass im österreichischen Rentenkonstrukt kaum "automatische Stabilisatoren" vorgesehen sind. So ist eine laufende Anpassung des Antrittsalters an die steigende Lebenserwartung unumgänglich: "Die durchschnittliche Pensionsbezieherin aus der Mittelschicht ist bereits über 30 Jahre lang in Rente." Das sei auf Dauer unfinanzierbar: "Nur 65 Prozent der Pensionen sind durch Beitragszahlungen gedeckt, 35 Prozent sind hingegen haltlose Versprechungen, also heiße Luft." Marin weiter: "Wir agieren beim Pensionssystem wie Autofahrer, die nicht ganz nüchtern und viel zu schnell ohne gute Bremsen und elektronische Helferleins unterwegs sind." Nachsatz: "Trotz Offroad-Gefahr muss keine Katastrophe passieren, aber gefährlich ist es allemal."

Das künftige Pensionssystem wird das aber aushalten. Marin hält Berichte über Massenkündigungen von älteren Arbeitnehmern ohnehin für "Sozialkitsch". Dies allein schon deswegen, "weil der Großteil der Kleinbetriebe nur wenige Mitarbeiteter haben, die sie kurz vor dem Pensionsalter ungern freisetzen". Bei großen Konzernen oder dem öffentlichen Dienst ist das anders. Hier werden häufig in großem Stil Leute in Pension geschickt.

»Sind bei Pensionen wie ein Autofahrer nicht ganz nüchtern und viel zu schnell unterwegs«

Besonders bei Beamten muss der Bund umdenken. Marins Vorschlag: "Wer früher als vorgesehen in Pension geht, wird für die Dauer des Vorruhestandes nicht nachbesetzt." So werde sich "der Spuk massenhafter Frühverrentung von unkündbaren Beamten von selbst lösen", so Marin. Immerhin hat jede Dienststelle Interesse an Vollbesetzung. Privaten Unternehmen schlägt der Pensionsforscher eine flächendeckende betriebliche Altersvorsorge wie in Schweden vor, die über Kollektivverträge geregelt ist und zu einem Entgeltanspruch des Arbeitnehmers führt.

Ende der Weltenbummler

Solange solche Lösungen allerdings bloß angedacht sind, bleibt den noch im Berufsleben Stehenden nur Eigeninitiative. "Sie alle werden bei den Pensionen schlechter aussteigen als ihre Elterngeneration", sagt Url. Wer irgendwie kann, sollte versuchen, möglichst lange gesund zu bleiben und über eine Weiterbeschäftigung nach dem gesetzlichen Pensionsalter versäumte Beitragsjahre nachzuholen. "Wichtig ist auch, sich immer bewusst zu sein, dass nur aktive Arbeitszeiten und förderungswürdige Zeiten wie Karenz und Arbeitslosigkeit für die Pension zählen", so der Wifo-Experte.

Wer vorhat, als Weltenbummler jahrelang herumzuziehen, sollte die staatliche Pension besser gleich vergessen. Oder sich bei entsprechend vorhandenem Kleingeld gleich eine oder mehrere Zusatzpensionen leisten. "Auf privater Basis ansparen, die Immobilie, in der man lebt, als Eigenvorsorge sehen, eine private Lebensversicherung abschließen oder eine betriebliche Altersvorsorge, wo vorhanden, forcieren: Das alles kann hilfreich für die Absicherung einer gewissen Pensionshöhe sein", sagt Url.

Kinder müssen vorsorgen

Während Josef Gaschl, Barbara W. und 2,3 Millionen andere aktive Pensionisten sich um solche Banalitäten keine Sorgen mehr zu machen brauchen, ist für Jacqueline T. und ihre Generation aktive Vorsorge angesagt. Und tatsächlich scheint auch schon ein Umdenken stattgefunden zu haben. Die 21-Jährige zahlt -angeregt durch ihre Eltern -bereits seit ihrem zehnten Lebensjahr in eine private Pensionsversicherung ein und hofft, mithilfe dieser zusätzlichen Beträge nicht in der Altersarmut zu enden. Aktuell quält sie sich freilich mit anderen Themen: Ihr Arbeitgeber hat vor einem Jahr beschlossen, ihr Arbeitsverhältnis auf 35 Wochenstunden zu kürzen. Diese Maßnahme kostet sie nicht nur jeden Monat bares Geld, sondern schmälert über die Jahre hinweg auch ihren Pensionsanspruch. "Ich bin kinderlos und ungebunden. Und trotzdem wird mir das Arbeiten schwergemacht."