Ai Weiwei: "Ich wünsche euch alles Gute"

Die Arbeiten des Künstlers Ai Weiwei sind weltweit zu sehen. In seiner Heimat China wird er bekämpft. Für seinen Sohn verfasste er die Autobiografie "1000 Jahre Freud und Leid". Ein News-Interview über Verfolgung, das Virus und wie politisch korrektes Theater zur nächsten Kulturrevolution führen kann.

von Ai Weiwei © Bild: Getty/Berry

Alarmierend, wenn ein Buch verbrannt wird. Noch schlimmer, wenn das in unseren Tagen geschieht, wie ein Video auf Instagram zeigt. Eine Bücherverbrennung? Heute? In unserer Zeit? Das Buch, das in Flammen aufgeht, trägt den Titel "1000 Years of Joys und Sorrows". Der Autor ist der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei: Er selbst verbrannte seine Autobiografie vor den Augen seines Sohnes Lao.

Ein symbolischer Akt und seine Art, an die Grausamkeiten zu erinnern, die einst seinem Vater, dem Dichter Ai Qing, in Mao Zedongs China widerfuhren. Um sich vor dem "roten Terror" so nennt Ai Maos Regime zu schützen, verbrannte Ai Qing alle seine Bücher aus der westlichen Welt. In Zeiten der "Kulturrevolution" wäre seine Bibliothek als antirevolutionär, antikommunistisch und unpatriotisch gesehen worden.

Der damals elfjährige Weiwei sah zu, wie Gedichtbände von Walt Whitman, Baudelaire, Majakowski, Lorca und Éluard in Flammen aufgingen. "In dem Moment, als sie zu Asche wurden, erfasste mich eine seltsame Kraft", schreibt er fünfzig Jahre später in seiner Autobiografie. Damit meinte er jene Kraft, die vom gedruckten Wort ausgehen kann. Die sollte nun seinen Sohn durch sein Buch erreichen. So erklärt sich der Akt, das eigene Buch, das erste Exemplar, das er in Händen hielt, gemeinsam mit seinem Sohn Lao den Flammen zu übergeben.

Ein Buch für Lao

Die Lebenserinnerungen des heute 64 jährigen, weltweit Angesagten das Internetportal artfacts.net führt Ai Weiwei auf Platz 21 der wichtigsten lebenden Künstler sind zeitgleich in 14 Sprachen erschienen. Bei Penguin liegt die deutsche Übersetzung, "1000 Jahre Freud und Leid", vor. Anlass für ein Gespräch, dem der gefragte Mann zustimmt. Die Berichterstatterin hatte Ai Weiwei bereits 2018 in Wien zum Interview getroffen. Das hatte aber nichts mit Kunst zu tun. Ai Weiwei, praktizierender Umweltschützer, war zum ersten Wiener Tierschutzgipfel der Organisation Vier Pfoten angereist. Sein nächster Wien Besuch ist für das kommende Frühjahr geplant, wenn ihm die Albertina modern ab 16. März die Ausstellung "Ai Weiwei. In Search of Humanity" widmet. Ein persönliches Treffen erlauben in diesen Wochen die aktuellen Umstände nicht. Man einigt sich auf die Kommunikation per E Mail.

"Ich wollte wissen, was mit mir und mit meinem Vater in all diesen Jahren geschehen ist", erklärt Ai via News seine Motivation, das Buch zu schreiben. Die Aufzeichnungen sollen seinem Sohn als Basis dienen, das Leben seines Vaters und seines Großvaters zu verstehen, er. Zehn Jahre habe erfür die Recherchen und die Aufzeichnungen gebraucht. Ihrer beider Leben, das eigeneund das seines Vaters, wollte erin den Kontext von Chinasjüngster Geschichte stellen, führt er weiter aus. "Mein Buch beginnt mit der Geburt meines Vaters 1910, dem Ende der Qing Dynastie, und endet mit der Geburt meines Sohnes 2009. Es umspannt 99 Jahre Geschichte."

Das habe großer Anstrengung bedurft, aber es habe ihmgeholfen, zu verstehen, wassich in China und in seiner Familie ereignet hat.

Die Qualen des Vaters

Das Frappierendste ist, wiesich das Leben des Vaters in jenem des Sohnes wiederholte. Ai Qing hatte in jungen Jahren China verlassen, studierte Literatur in Paris, wurde nach seiner Rückkehr Universitätsprofessor, bis er von Maos Regimeals "Rechtsabweichler" qualifiziert wurde. Der linke Dichter, Erneuerer der chinesischen Lyrik, galt nun als Urheberbourgeoiser Literatur. Dass erseine Bibliothek verbrannte, half ihm nichts: Die Familiewurde aus Peking verbannt. Der Vater musste in ein Arbeitslager am Rand der Wüste Gurbantünggüt einrücken. DieMutter kehrte mit Ai Weiweiskleinem Bruder nach Pekingzurück. Weiwei blieb beim Vater und lebte mit dem gedemütigten Mann in einem Erdloch. Erst nach ein paar Jahren wurde Ai Qing rehabilitiert undkonnte seine schriftstellerische Arbeit wieder aufnehmen.

Sein Schicksal sollte sich im Leben seines Sohnes wiederholen. Der Unterschied: Ai Weiwei studierte nicht in Paris, sondern in New York. Nachzwölf Jahren kehrte er nach China zurück. 2007 verschaffteihm eine Kunstaktion bei derdocumenta in Kassel den Durchbruch. Sie bestand darin, dass er 1.001 chinesische Touristen als Gruppe nach Kasselbrachte.

Die Leiden des Sohnes

Ai Weiweis Aufstieg in Chinabegann rasant. Mit dem Schweizer Architektenduo Herzog & de Meuron kreierteer das Stadion für die olympischen Spiele in Peking. Einweiterer Auftrag führte ihn im Mai 2008 nach Sichuan. Genauzu jener Zeit, als ein heftiges Erdbeben die Provinz erschütterte. Tausende Schüler kamenin den einstürzenden Gebäuden ums Leben. Über seinen Internet Blog rief Ai Weiweidie Eltern auf, die Namen ihrervermissten Kinder bekannt zugeben. Mit einer groß angelegten Aktion unter dem Titel "Remembering" sammelte er Tausende Rucksäcke und montierte sie später an eine Mauerdes Münchner Hauses der Kunst. Damit warf er der chinesischen Regierung mittelbarvor, die Schulen wären nicht sicher gebaut worden. Ai Weiwei hatte sich damit zum Staatsfeind erklärt.

2011 wurde er an einen geheimen Ort verschleppt und 81 Tage festgehalten. Als Grund für seine Festnahme führten die Beamten Steuerhinterziehung an.

Ai, der sich nichts vorzuwerfen hatte, wusste nicht, wo er war, noch, wie lange seine Haft dauern würde. Sein Sohn Lao war damals zwei Jahre alt. Ob er ihn jemals wiedersehen würde, wusste er damals auch nicht. Rund um die Uhr wurde er bewacht und immer wieder verhört. Den Ort seiner Peinigung baute er später als Installation nach.

Die Antwort auf die Frage, wie er das Erlittene heute, nachdem er es aufgeschrieben hat, empfindet, verblüfft:

"Während meiner geheimen Haft, als ich in die Position des Verhörten geriet, fühlte ich eine gewisse Zufriedenheit in meinem Herzen, weil ich endlich dieselbe Erfahrung wie mein Vater machen konnte. Er war 80 Jahre zuvor von der Kuomintang (der chinesischen Nationalpartei) eingesperrt worden und sechs Jahre in Haft. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich jemals in dieselbe Situation wie er geraten würde. Das war etwas, worum ich ihn beneidete. Er war damals noch sehr jung, und die Haft hätte ihn fast das Leben gekostet. Ich bewunderte ihn dafür. Wenn ich darüber nachdenke, mein Vater, ein Dichter, und ich, ein Künstler, wir beide drücken uns auf verschiedene Arten aus, auch unser Blick auf die Gesellschaft unterscheidet sich. Aber was wir gemeinsam haben, ist, dass wir beide unsere Gedanken ausdrücken und dass wir beide deshalb großes Unglück erlebten."

Was ihn noch mit seinem Vater verbinde, sei ein Hang zur Rebellion. Der einzige Unterschied: Sein Vater sei eigenständiger gewesen, er der rebellischere Typus.

Was ihm bei seiner Haft geholfen habe, sei die Erfahrung, die er an der Seite seines Vaters im Lager gemacht habe. Wie wichtig diese für ihn war, erkenne er aber erst jetzt, blickt er zurück. Im Erdloch hatte er den Extremfall trainiert.

"Als ich verschleppt wurde, geriet ich nie in Panik. Ich blieb immer ruhig. Erstens gaben sie einen Grund für meine Festnahme an. Hätten sie mich nicht verhaftet, hätte meine Rebellion ihre Existenz bedroht. Zweitens war mir bewusst, dass ich nicht ungestraft davonkommen würde, denn ich hatte schon zu viele gesehen, die auf diese Weise sogar ihr Leben verloren haben. Es war die Erfahrung meiner Kindheit, die mich damals so gelassen werden ließ."

Versteht sich von selbst, dass ihm die durch das C Virus bedingten Lockdowns nichts mehr anhaben konnten. Aber kommen ihm die Erregungen der Europäer über die Schließungen da nicht lachhaft vor?

"Jeder hat seine Gewohnheiten und seine Art zu leben. Im Westen sind die Menschen frei, einander zu treffen. Wenn die Regierung Maßnahmen trifft, diese Freiheit einzuschränken, dann wird sie auf Widerstand stoßen. Es ist eine schwierige Frage, wie viel von ihrer Freiheit die Menschen wegen einer politischen Kontrolle zu opfern bereit sind. Aber beim Lockdown geht es nicht nur um die Krankheit, es geht auch um politische Kontrolle. Europa passt ständig seine Methoden an, damit die Einzelnen und die Gesellschaft dem zustimmen. Aber der Lockdown im Westen ist nicht der gleiche wie in China. Der ist von Grund auf militarisiert, da werden die Menschen wie im Gefängnis behandelt."

Was sagt er zur Impfpflicht?

"Ich bin mit verpflichtenden Maßnahmen, die von einer Regierung auferlegt werden, nicht einverstanden. Regierungen sollten nicht die Macht haben, dem Volk irgendwelche verpflichtenden Maßnahmen aufzuerlegen, es sei denn, sie geben damit zu, dass sie ein autoritäres Regime sind."

Kann er jene verstehen, die gegen diese Maßnahmen demonstrieren?

"Dieser Protest ist ganz normal. Die Maßnahmen der Regierung sollten auf die Wünsche der Menschen abgestimmt sein. Wenn nicht, wird es natürlich Proteste geben. Ich sage damit aber nicht, dass ich diese unterstütze, aber ein Protest ist die normalste Reaktion in einer demokratischen Gesellschaft."

Kulturrevolution neu

Themenwechsel zur Kunst. Im März 2020 hätte er an der Oper in Rom "Turandot" inszenieren sollen. Dramatisch sei das gewesen, blickt er zurück. Kurz vor der Premiere brach die Pandemie aus, das Vorhaben wurde verschoben, die Premiere auf den kommenden 22. März verlegt. Zentrale Frage: Wie wird er Puccinis chinesische Prinzessin zeigen? In Europa orientieren sich immer mehr Theater und Opernhäuser an politisch korrektem Verhalten, der Darsteller des Otello darf sich nicht mehr schwarz schminken. Übernimmt, wie in Rom, eine Sängerin aus dem Westen die Rolle der Turandot oder der Madame Butterfly, darf sie keine Asiatin imitieren. Wie sieht der gebürtige Chinese diese Entwicklungen?

"Wenn politische Absichten das Leben im Theater infiltrieren, ist das sehr gefährlich. Wenn die Kunst politisch eingeschränkt wird, wird die Welt in eine Situation geraten wie in der Kulturrevolution in China. Wenn politische Korrektheit als Instrument verwendet wird, alles zu kontrollieren, wäre das sehr extrem." Bleibt noch ein Wort zum Tierschutz: In seinen Memoiren erzählt Ai Weiwei, wie er 500 Katzen davor bewahrt hat, in einer Fleischfabrik verarbeitet zu werden. Einige der Geretteten nahm er in seinem Atelier auf, für andere fanden Tierschützer ein Zuhause. Sieht er eine Chance, dass China jemals aufhören wird, Hunde und Katzen qualvoll für die Fleischerzeugung zu töten?

Das Verhältnis zwischen Tier und Mensch sei kompliziert, holt er diplomatisch aus: "Es ist die Frage, welche Einstellung die Menschen zum Leben haben, und auch eine Frage der Bildung. Solche Dinge passieren nicht nur in China. Wir wissen, dass es in Dänemark und in Japan Massentötungen von Delfinen gibt, in Spanien gibt es Stierkämpfe, wo das Leben der Tiere zur Unterhaltung herhalten muss. Das ist unmoralisch. Und moralisches Bewusstsein sollte ein gemeinsames Gut sein."

Was der Sohn sagt

Blickt er nun zurück auf sein Leben und sein Buch, was ist das Wichtigste, das sein Sohn daraus lernen kann?

Der habe es bereits gelesen und den Klappentext geschrieben. Seine Botschaft ist bei dem heute 16 jährigen Ai Lao angekommen. Ai Weiwei schickt uns das Resumee seines Sohnes: "Was uns das Buch gelehrt hat, ist, dass Menschen an der Macht eine Bedrohung für die machtlosen sind. Aber wenn sich diese vereinen, dann wären sie eine Bedrohung für die Mächtigen; das erklärt, warum die chinesische Regierung alle möglichen Mittel aufbietet, um Informationen zu zensurieren und die Bürger vor Informationen zu schützen, die ihr Denken verändern können."

Und Ai Weiweis Botschaft an uns?"Ich wünsche euch alles Gute".

Das erwidern wir selbstverständlich.