Wie wird man der Beste?

Der eine: der führende Tenor unserer Zeit. Der andere: Genetiker und Bildungsforscher internationalen Formats. Piotr Beczała und Markus Hengstschläger trafen einander für News zum Gespräch. Welchen Einfluss die Halsweite auf die Gesangskarriere hat. Und warum es nützlich ist, von einer Sprungschanze in die gähnende Tiefe zu blicken

von Wie wird man der Beste? © Bild: Neumayr/Christian Leopold

Der eine: der vielleicht bedeutendste Operntenor unserer Zeit. Piotr Beczała, 55, Inhaber einer betörenden italienisch-französischen Kantilene samt elementarer Höhe, drang zuletzt auch ins Wagner-Fach vor. Biografisch gesehen brachte er keine Voraussetzungen mit. Niemand aus der Familie im polnischen Czechowice hatte je mit Musik zu tun. Den Volksschulchor hatte er nach kurzer Zeit verlassen. Nur um einem Mathematik-Test zu entkommen, meldete er sich Jahre später zum Vorsingtermin für die reiferen Jahrgänge. Damit nahm sein Leben die entscheidende Richtung.

Der andere: einer der führenden Humangenetiker Europas. Der Österreicher Markus Hengstschläger, 54, lehrt seit Jahrzehnten an der Wiener Universität und hat mit dem Sachbuch "Die Durchschnittsfalle" * unserem Bildungssystem eine verheerende Diagnose gestellt. Seine besondere Obacht gilt der Förderung herausragender Talente, die dem obwaltenden pädagogischen Prinzip des unauffälligen Durchkommens zum Opfer fallen. In Salzburg trafen wir beide zum Gespräch und stiegen mit der Frage aller Fragen ein.

Herr Professor, wie erklärt der Genetiker den Begriff "Begabung", was ist Talent und was ist Genie?
Hengstschläger: In der Wissenschaft ist das relativ klar. Begabung steht für ein "Potenzial". Nicht mehr und nicht weniger. Beim Potenzial spielen Gene eine Rolle, es gibt dabei also auch eine biologische Komponente. Eine Begabung kann aber nur dann umgesetzt werden, wenn sie entdeckt wird, gefördert wird und durch üben, üben, üben in eine Leistung umgesetzt wird. Das heißt, der Mensch ist dabei nicht auf seine Gene reduzierbar und das Potenzial entfaltet sich nicht von allein. Ein Beispiel ist die sprachliche Begabung. Der Mensch hat das Potenzial, Sprache zu lernen. Würde aber niemand mit einem Kind sprechen, würde es von sich aus nicht sprechen. Wenn ich schon einem der besten Tenöre gegenübersitze, würde mich natürlich seine persönliche Einschätzung der biologischen Komponente in seinem Beruf interessieren.
Beczała: Die ist sicher genetisch bedingt, weil der Körperbau eine große Rolle spielt. Das ist wie bei Basketball, wenn jemand 1,50 ist, hat er in der NBA keine Chance. Caruso hat immer gesagt, ein richtig guter Tenor braucht einen großen Brustkorb und eine Halsweite. Aber was meine Stimme selbst anlangt, ist die Genetik nicht beweisbar. Denn niemand in meiner Familie hatte vor mir etwas mit Gesang zu tun. Ich habe gehört, dass mein Großvater mütterlicherseits eine schöne Stimme hatte, aber er hat das niemals professionell beweisen können.
Hengstschläger: Und wie hat sich Ihr Talent durchgesetzt?
Beczała: Das ist für mich ein Wunder, vielleicht Zufall, aber auch eine gewisse Art von Konsequenz, der ich gefolgt bin. Ich war nie zufrieden, mit dem Klang meiner Stimme und habe immer weiter getüftelt.
Hengstschläger: Ich würde es lieber nicht dem Zufall überlassen, den nächsten Beczała zu entdecken. Das Problem ist, dass das Bildungssystem sich viel zu stark darauf konzentriert, Wissen von einer Generation in die nächste zu transferieren. Das ist natürlich wichtig. Man sollte sich aber vor allem auch auf die Talentförderung konzentrieren. Jeder junge Mensch hat das Recht darauf, dass man sich professionell auf die Suche nach seinen Begabungen macht.

© Neumayr/Christian Leopold KLARE WORTE. "Ein afrikanisches Sprichtwort sagt: 'Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen.' Für ein Talent braucht es mehrere Dörfer."

Herr Kammersänger, bei Ihnen hat sich wohl niemand auf die Suche gemacht.
Beczała: Irgendjemand hat mich einmal am Lagerfeuer singen gehört, und dann haben sie mich im Chor aufgenommen. Mit meinen elf Jahren war ich damals einer von zwei Buben. Ich habe mich so geschämt, unter Mädchen zu sein, und unternahm alles, um gefeuert zu werden. Das geschah dann auch. Drei Jahre später wäre so eine Situation kein Problem für mich gewesen, da hatte ich dann schon eine andere Einstellung zu Mädchen und hätte meinen Gesang wahrscheinlich früher entwickelt.
Hengstschläger: In vielen Fällen ist es so, je früher man ein Talent fördert, desto besser ist es. Und grundsätzlich gilt: Geld, das man früh in Bildung und Förderung investiert - etwa in die Elementarpädagogik -, ist effektiver eingesetzt, als wenn man erst später investiert.
Beczała: Man kann niemanden zwingen. Aber auch wenn Kinder nicht wollen, sollte man ihnen die Möglichkeit zum Musizieren geben. Sie sollen ruhig ein paar Jahre Klavier lernen, irgendwann werden sie es einem danken, vielleicht, wenn sie 25 sind und Sänger werden wollen. Denn es gibt ein inneres Gedächtnis. Die Entwicklung geht dann schneller und einfacher. Das war bei mir nicht der Fall. Ich hatte mit 18 als Sänger Blut geleckt, als ich im Chor war und kleine Solos bekam. Einmal sang ich russische Lieder und brauchte nachher nie mehr etwas im Russisch-Unterricht machen. Ich bekam einen Einser, ohne in die Schule zu gehen, weil das meiner Lehrerin so gefallen hat.
Hengstschläger: In Anlehnung an das afrikanische Sprichwort "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen" sage ich oft "Um ein Talent zu entdecken und zu fördern, braucht man mehrere Dörfer". Man würde Eltern überfordern, wenn sie alleine für die Entdeckung der Talente ihrer Kinder verantwortlich wären. Was, wenn die Eltern z. B. unmusikalisch sind? Wir müssten ein Bildungssystem haben, wo möglichst alle Talente erkannt werden können. Und man darf Talente nicht werten. Menschen, die es z. B. können und wollen, andere Menschen zu pflegen, haben ein genauso großes Talent wie Künstler oder Wissenschafterinnen.
Beczała: Oder ein guter Bäcker, der ist ein Genie.
Hengstschläger: Genau. Außerdem hängt in Österreich die Wahrscheinlichkeit, dass Begabungen von Kindern entdeckt werden, immer noch zu sehr davon ab, ob ihre Eltern Zeit, Geld und Interesse daran haben. Das ist nicht fair. Es müsste so angelegt sein, dass jede und jeder ähnliche Chancen hat, etwas für sich zu finden. Das Musikschulsystem funktioniert ja ganz gut. Aber das bräuchten wir für viele Begabungsbereiche. Jeder Mensch hat Talente -aber jeder wo anders. Eine Möglichkeit wäre der vermehrte Einsatz von verschiedenen Talente-Scouts. In der Musik gibt es das ja
Beczała: Im Musikbereich gibt es Agenturen, Dirigenten, ...

»Man kann sich auch beim Üben die Stimme kaputt machen«

Piotr Beczała

Aber bis es soweit ist, dass die einen jungen Sänger überhaupt wahrnehmen, muss der schon etwas vorweisen, eine fertige Ausbildung und das Können.
Beczała: Sicher. Dafür gibt es doch Musikschulen.

Aber man muss den Kindern den Besuch in einer Musikschule erst ermöglichen.
Beczała: In meiner Schule in der damaligen Volksrepublik Polen haben wir alles gemacht. Vieles auch schlecht, aber ich konnte aus einem riesigen Angebot wählen. Ich war auch einmal Meister in Volleyball auf Universitätsebene. Ich bin Schlittschuh gefahren, alles Mögliche.
Hengstschläger: Ich habe bis zur Matura privat Klavierunterricht gehabt. Andere Dinge haben mich mehr fasziniert, aber ein großes Spektrum an Möglichkeiten erhöht die Chance, das Richtige zu finden, und sich auch andere Dinge anzusehen, führt dazu, diese auch mehr zu respektieren. Man kann ja sonst die Leistung kaum bewerten. Man muss z. B. nur einmal von einer Skisprungschanze hinunterschauen oder selbst einmal einen Tag in der Pflege arbeiten
Beczała: Ich habe im Fernsehen einen Buben gesehen, der wollte Klarinette spielen, weil er ein Stück im Radio gehört hatte. Jetzt ist er Weltklasse.
Hengstschläger: Das zeigt auch etwas anderes sehr Wichtiges: Wir brauchen Role-Models, im Sport, in der Musik, in der Wissenschaft etc. Und die müssen gesehen werden können. Man muss das Gefühl bekommen können, das könnte auch etwas für mich sein. Das Sichtbarmachen von Vorbildern ist ein ganz wesentlicher Punkt. All das spielt zusammen, wenn es um Talentfindung geht.

Sind Sie ein Role-Model?
Hengstschläger: Das ist Herr Beczała auf jeden Fall.
Beczała: Ich bemühe mich, so zu singen, dass sich die jungen Leute, die auf die Sänger schauen, ein Beispiel nehmen können, so wie ich als junger Sänger auf die Großen geschaut habe. Mehr kann ich nicht machen. Ich habe hier in Salzburg in einer Masterclass die Möglichkeit, mit jungen Sängern zu arbeiten. Klar rede ich auch darüber, welche Begabungen, welche Vorstellungen sie haben. Wenn mir dann eine kleine, zarte Sängerin sagt, dass sie unbedingt die Turandot singen will, sage ich, das ist schön für dich, aber konzentriere dich lieber auf das lyrische Repertoire, denn dort ist die Wahrscheinlichkeit, dass du erfolgreich wirst, viel höher.
Hengstschläger: Ich unterrichte jetzt schon über ein Vierteljahrhundert an Universitäten. Loben ist dabei eine sehr wichtige Komponente. Ich beschäftige mich aber auch immer mit der Frage, wie man jungen Leuten in der richtigen Form sagt, was an ihrer Arbeit nicht ganz so gut ist. Ich finde es nämlich ziemlich respektlos, wenn man jemanden für etwas lobt, das nicht gut ist.

© Neumayr/Christian Leopold KLARE WORTE. "Es gibt Wettbewerbe, da gewinnen Leute, die im Beruf des Sängers gar nichts zu suchen haben"

Das heißt, Kuschelpädagogik ist auch nicht das Richtige. Wie macht man es denn dann richtig?
Beczała: Indem man ehrlich ist.
Hengstschläger: Ehrlich lobt und ehrlich kritisiert.
Beczała: Es gibt aber tatsächlich heute junge Leute, die nur Lob wollen. Ich war immer für Kritik offen. Für meine erste Masterclass bei der großen Soporanistin Sena Jurinac in der Schweiz und in Südfrankreich haben meine Eltern 500 Schweizer Franken gezahlt. Sie hat viel in meinem Leben verändert. Einige Teilnehmer wollten, dass Sena sie das Singen lehrt, denn sie meinten, dafür hätten ihre Eltern bezahlt. Aber andere wollten nur gelobt werden. Da waren sie glücklich, aber bei jeder Kritik sind sie niedergeschlagen nach Hause gegangen. Sena Jurinac war eine Psychologin, sie wusste, wen sie kritisieren konnte.
Hengstschläger: Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Talentförderung ist der Respekt gegenüber der nächsten Generation, den man am besten zum Ausdruck bringt, indem man sich wirklich intensiv mit ihr beschäftigt.
Beczała: Ich nehme mir eine Stunde Zeit für einen Studenten und sage ihm ganz ehrlich, was ich meine, mit meiner Erfahrung, mit meinem Wissen. Ob er mir glaubt oder nicht, ist sein Problem.
Hengstschläger: Ich glaube, dass Studierende relativ leicht durchschauen, ob man seine ehrliche Meinung sagt oder nicht.

Haben denn die Intendanten genügend Kompetenz, eine Stimme mit Potenzial zu erkennen und dann im Engagement richtig weiterzuentwickeln?
Beczała: Es gibt Wettbewerbe, da gewinnen Leute, die in dem Beruf gar nichts zu suchen haben. Da kann ich Geschichten erzählen! Ich war vor zwei Jahren bei einem Wettbewerb in der Jury. Es kamen 15 Top-Intendanten aus der ganzen Welt. Zu vergeben waren maximal fünf Punkte, und ich war sehr großzügig mit den Punkten, weil ich fand, einen Punkt hat jeder verdient, schon einmal, weil er da ist. Ein Teilnehmer, Bariton, ich nannte ihn den Bäcker aus Dublin, war sehr groß gewachsen und sang furchtbar. Man hatte ihm bei der Stimmentwicklung sehr geschadet. Ich war ratlos, gab ihm aber einen Punkt, weil er da war. Aber ich hörte die ganze Zeit, während er sang, begeistertes Wispern zwischen zwei hochkarätigen Intendanten und Besetzungschefs. Mein Bäcker aus Dublin wurde in die zweite Runde durchgeboxt. Dann sang er Britten, das war noch schlimmer. Und dann hat der, der ihn so gelobt hat, gesagt, der Kandidat habe leider nicht genug Punkte bekommen, aber er hätte es trotzdem verdient, ins Finale zu kommen. Da habe ich Zweifel an mir selber bekommen. Nicht an meinem Einschätzungsvermögen. Aber dieser Intendant hat mich für 20 Spielzeiten engagiert, und dann gefällt ihm so jemand, der das Gegenteil von allem ist, was für mich Operngesang bedeutet?

»Es ist respektlos, jemand für etwas zu loben, das nicht gut ist«

Markus Hengstschläger

Wie erkennt man das Potenzial eines Sängers?
Beczała: Bei einem Wettbewerb merkt man sofort, ob jemand Stimme hat oder nicht. Und wenn jemand klein und mager ist, kann er die Stimme nicht auf ein bestimmtes Niveau bringen.
Hengstschläger: Auch durch Üben nicht?
Bezcala: Sicher nicht. Kennen Sie den Tenor Franco Corelli? Ein 1,95 m großer Athlet, und so war war auch seine Singweise. Das war ein Riesenmann mit einem Kehlkopf und einer physischen Art, die das unterstützte.
Hengstschläger: Man muss also die entsprechenden Voraussetzungen haben und extrem fleißig sein?
Beczała: Das mit dem Fleiß kann auch schiefgehen. Man kann sich auch beim Üben die Stimme kaputt machen. Ein Pianist kann sieben Stunden am Tag üben, wir müssen nach drei Stunden pausieren. Bei meiner Dankesrede in Katowice, wo ich vor ein paar Wochen zum Ehrendoktor ernannt wurde, stellte ich eine mathematische Gleichung für Karriere auf. Kann jeder so eine Karriere machen wie ich? Ja und nein. Man könnte es so formulieren wie Einstein: K = Talent mal Arbeit zum Quadrat. Das könnte man sich vorstellen. Aber was ist Talent, wie viel braucht man, und welches? Musikalität zählt, Ausdauer auch, und dann es gibt so viele Komponenten, die überhaupt nichts mit Gesang zu tun haben, Demut, Ehrgeiz, ...
Hengstschläger: ... auch z. B. Präsenz und Charisma. Wenn Herr Beczała auf die Bühne kommt, spürt man das gleich.
Beczała: Noch vor zehn Jahren sagten viele, der Beczała habe kein Charisma.

Hat Sie das gekränkt?
Beczała: Naja man hat ja auch geschrieben, Johannes Paul II. habe kein Charisma. Man kann über ihn alles sagen, aber das nicht. Außerdem: Bezeichnet Charisma eine positive Erscheinung oder kann das auch etwas Negatives sein?
Hengstschläger: Es ist wichtig noch einmal zu betonen, dass bei Begabungen die Biologie eine Rolle spielt, aber nicht reicht. Dass man Begabungen finden und durch Wissenserwerb und Üben entwickeln muss ...
Beczała: ... und Fehler vermeiden. Das ist eine große Sache.
Hengstschäger: Und man muss auch darüber diskutieren, ob die Aussage "Je härter man arbeitet, desto besser" eigentlich immer zutrifft.
Beczała: Das geht vielleicht beim Ballett. Aber auch da sind irgendwann die Gelenke kaputt.

© Neumayr/Christian Leopold

Und wie ist es in der Wissenschaft?Wenn jemand zwölf Stunden am Tag strebert?
Hengstschläger: Da geht es sehr viel um Kreativität und um das, was ich Lösungsbegabung nenne. Dafür braucht es mehr Qualität als Quantität. Oft geht es um eine Idee, um einen Geistesblitz und dann um Innovation. Dabei kann sogar Zufall eine Rolle spielen - man spricht dann gerne von Serendipität. Aber nur wer laufend in Bewegung bleibt, kann etwas finden, was er eigentlich gar nicht gesucht hat. Daher spielt Fleiß auch in der Wissenschaft eine große Rolle.
Beczała: Vieles habe ich auch aus Trotz erreicht. Genetisch habe ich das Bild des Tenors Nicolai Gedda vor mir gesehen, 1,82 m groß, so ein slawisches Gesicht wie ich. Ich dachte, da müsste ich so ein hohes C haben wie er, und hab's gefunden.

Moment, es hat doch nicht jeder 1,82 m Große mit slawischen Zügen ein hohes C?
Beczała: Möglich ist es schon. Man braucht dazu aber auch eine gewisse Körperspannung, Muskelspannung, Mut. Das ist wie beim Skispringen, man muss den Absprung treffen. Und man muss die Stimme einstellen, eine Opernstimme daraus machen.

Das heißt, jeder kann ein halbwegs guter Sänger werden?
Beczała: Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich habe einen Schüler, einen französischen Winzer und Schlossbesitzer. Er ist jetzt 65, sein Traum war, ein Tenor zu sein. Ich habe ihn vor drei Jahren kennengelernt. Er kam nach Zürich, wir haben drei Tage gearbeitet. Die Stimme ist da, aber mit 65 kann man nicht mehr viel verändern, da hat man nicht mehr diese Muskeln. Ich sagte ihm, die Metropolitan Oper ist ausgeschlossen, aber in seinem Schloss kann er für seine Leute singen. Einen Cavaradossi im "Tosca" wird er aber nicht schaffen. Vor 30 Jahren hätte die Stimme auch dafür gereicht. Nur hätte er dann heute kein Schloss, sondern wäre ein mittelmäßiger Cavaradossi.
Hengstschläger: Und es gibt auch noch das, was ich ungerichtete Kompetenzen nenne, die man haben muss, um Erfolg zu haben: Kreativität, kritisches Denken, soziale Kompetenzen, Empathie, Teamfähigkeit, Resilienz, Enttäuschungen wegstecken können u. v. m. Die Förderung dieser Kompetenzen muss im Schulsystem oder in der Ausbildung mehr Bedeutung bekommen.
Beczała: Das alles passt in meine mathematische Gleichung.
Hengstschläger: Es kann ja sein, dass jemand gute Voraussetzungen hat, aber dann fehlt noch etwas.
Bezcala: Man sagt, das gewisse Etwas. Es gibt aber auch Leute in meinem Beruf, die mit Arroganz alles übertönen. Dadurch wird eine Inkompetenz kaschiert, auch im technischen Bereich. Wenn jemand so sicher ist, dass ein hässlicher Ton super ist, kann er das womöglich eine Zeitlang über die Rampe bringen. Das ist alles möglich, aber es geht nicht lange.
Hengstschläger: Die Wechselwirkung zwischen dem Wissenserwerb in einem Kernbereich, dem Üben und den verschiedenen zusätzlichen Kompetenzen ist in der Wissenschaft genauso von größter Bedeutung. Die nächste Generation muss die Fähigkeit entwickeln können, selbst Lösungen zu finden. Sie muss Entscheidung fällen wollen und die ethischen Aspekte ihres Handelns bewerten können.

Wie stellen sich denn aus Ihrer Erfahrung die Folgen der Pandemie dar? Werden sich die Künstler, die Wissenschafter von der Pandemie erholen?
Beczała: Nicht zu meiner Lebenszeit. Wir werden auch noch mindestens die nächsten fünf Jahre konkret über Corona-Syndrome schreiben. Es ist grauenvoll, wir können das jetzt noch gar nicht richtig beurteilen. Viele mussten die Entscheidung treffen, die Karriere nicht fortzusetzen. Viele junge Sänger mit toller Stimme, die beschlossen haben, etwas anderes zu machen, wegen Corona.

Wie ist das in der Wissenschaft?
Hengstschläger: Es gibt Veränderungen - vor allem auch durch die digitale Transformation. Die Konferenzen finden öfter hybrid statt, man fliegt nicht mehr so viel, auch wegen des ökologischen Fußabdrucks. Andererseits kann man online Kolleginnen und Kollegen auch aus dem entfernten Ausland öfter sehen. Derart drastische Auswirkungen der Pandemie wie auf die Kunst würde ich in der Wissenschaft aber nicht vermuten. Mehr Sorgen macht mir die große Wissenschaftsskepsis in der Bevölkerung. Aber ein anderer Punkt ist mir noch wichtig: Die Renaissance rund um Florenz wurde von dem beflügelt, was man gerne den Medici-Effekt nennt. Man sagt, die Medici-Familie habe es ermöglicht, dass Menschen mit verschiedenen Begabungen und Ausbildungen, wie etwa Handwerker, Wissenschafter, Künstler aufeinander trafen. Man ist heute noch der Meinung, dass an solchen Schnittflächen von Menschen die besten Ideen und Innovationen entstehen. Meine Sorge ist schon, dass in der Pandemie, in diesem neuen Biedermeier, die Schnittflächen quantitativ und qualitativ abgenommen haben -übrigens auch durch Polarisierung in der Gesellschaft. Und um auf die Kunst zurückzukommen: Ich habe es unglaublich bewundert, dass man Künstlerinnen und Künstler ohne Publikum auftreten ließ. Aber das sind doch andere Schnittflächen als physische zwischen Künstlern und Publikum.
Beczała: Ich habe immer gesagt, dass Streamen nur eine Lösung für den Moment war, aber niemals für die Dauer. Viele haben gesagt, es entsteht eine neue Kunstform durch die Elektronik. Schmarren! Nichts entsteht da. Kunst entsteht, wo ein Künstler auf ein Publikum trifft. Ohne Publikum geht nichts.

ZUR PERSON

Piotr Beczała
wurde am 28. Dezember 1966 in Czechowice-Dziedzice, Polen, als Sohn einer Schneiderin und eines Textilfachmanns geboren. Nach dem Gesangsstudium begann er in Linz, bis ihn Alexander Pereira an die Zürcher Oper holte. Seit 20 Jahren ist Beczała an den bedeutendsten Opernhäusern der Welt gefragt. In Salzburg gibt er sein Rollendebüt als Radames in Verdis "Aida"

Von der Kindheit in Polen an die Weltspitze der Oper: Piotr Beczałas Erinnerungen wurden von Susanne Zobl aufgezeichnet und erschienen unter dem Titel "In die Welt hinaus" *. Amalthea, € 25

Markus Hengstschläger
wurde am 28. April 1968 in Linz geboren, studierte an der Wiener Universität Genetik und promovierte am Wiener Biocenter. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Yale University in den USA habilitierte er sich in Wien und ist heute einer der bedeutendsten Humangenetiker Europas. Trotz verlockender Angebote u. a. nach Kanada entschloss er sich zum Verbleib. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dem maroden Bildungssystem

Nach dem Bestseller "Die Durchschnittsfalle" verschrieb sich Hengstschläger weiter den Bildungsfragen: "Die Lösungsbegabung"* erschien 2020. Ecowin, € 24

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Das Interview ist ursprünglich im News-Magazin Nr. 31+32/2022 erschienen.