Warum die Liebe siegt

Zwischenmenschliche Wertschätzung kann wahre Wunder wirken. Und wie bei Lazarus in der Bibel Schwerkranke aufleben, Verzagte wieder hoffen, ins gesellschaftliche Out gedrängte Menschen gleichsam wieder auferstehen lassen

von Liebes-Leben - Warum die Liebe siegt © Bild: Nathan Murrell

Karlheinz, 78, war durch Diabetes und schwerwiegende Begleiterkrankungen beidseitig beinamputiert. Er hatte chronische Schmerzen, war geschwächt und mutlos. Dann trat Pflegerin Mona, 55, in sein Leben, und er hatte auf einmal wieder ein Ziel: Er wollte in seinem eigenen Auto mit ihr zu seinem Platz an der Sonne fahren, fünfhundert Meter von seinem Wohnhaus entfernt, seit den Jahren seiner Krankheit für ihn schier unerreichbar.

Ich hatte Karlheinz als Patienten einer Dialysestation kennengelernt, wo er mehrmals die Woche an riesigen Apparaturen zur – im Volksmund – Blutwäsche angeschlossen war. Das war im Zuge einer internationalen Forschungsstudie im Fach Medizinethik über das Arzt-Patienten-Verhältnis, an der ich damals arbeitete. Und dann wurde ich Zeugin des Wunders: Der depressive und sterbenskranke Karlheinz blühte förmlich auf, sein Lebensgeist war zurückgekehrt, selbst die Schmerzen wurden deutlich weniger. Und Mona? Sie hatte nichts anderes gemacht, als ihm von Mensch zu Mensch unaufgeregt, achtsam und wertschätzend zu begegnen. Ohne ihm das Gefühl zu geben, todkrank oder bedürftig zu sein oder seinen Zustand zunehmenden Verfalls nicht mitansehen zu können. Er fühlte sich bei ihr als Mensch, nicht als Behandlungsobjekt. Monas unverdrossene Wertschätzung und seine Sehnsucht ließen ihn wieder aufleben.

In dem erwähnten Forschungsprojekt besuchte ich mit Medizinstudenten die Dialysestation und unterteilte die Gruppe. Die eine Hälfte durfte gleich ans Krankenbett. Die andere Hälfte beschäftigte sich mit Laborwerten, Diagnosen und Prognosen, Fieberkurven. Die Patienten, die sogleich von Angesicht zu Angesicht mit den angehenden Medizinern sprachen, fühlten sich von ihnen wahrgenommen und wertgeschätzt. Trotz Schmerzen hatte sie einen Glanz in den Augen und freuten sich über den Besuch. Die Studierenden, die sich vorab in die Krankengeschichten vertieft hatten, wagten sich nur noch befangen, unter einem inneren Widerstand und zögerlich an die Patienten heran. Zu schrecklich waren die Prognosen in den Krankenakten!

Was die Studie ergab? Menschen wollen am liebsten selbst wirksam sein, effizient helfen, Lösungen anbieten. Und wenn keine Hoffnung mehr da ist, einfach buchstäblich nichts mehr zu tun ist, medizinisch alles ausgeschöpft ist, ziehen sich viele, nicht alle, aber zieht sich das System emotional vor den Leidenden, Todkranken und Sterbenden zurück. Eine Verdinglichung setzt ein, medizinische Patienten werden über Laborwerte und Diagnosen wahrgenommen, emotional ferngehalten. Man vermeidet, ohne es zu wissen, „die Beziehung zwischen einem Ich und einem Du“, wie der Philosoph Martin Buber sagte. „Wir können Ihnen nicht helfen. Es ist medizinisch alles ausgeschöpft“, tönen die besonders Sachbezogenen.

Und Menschen wie Karlheinz? Verfallen und verschlechtern sich im Krankheitsbild dann schneller, als man schauen kann. Daher braucht es Mitmenschen wie Mona. Die unbeirrt empathisch und unvoreingenommen auf Schwerstkranke zugehen, als wäre noch Zukunft möglich. Und ist sie ja auch! Die Liebe zum Leben siegt. Einfach nur da sein ist manchmal schon Hilfe genug. Auch wenn sich oberflächlich betrachtet am Zustand einer Person nichts mehr ändern lässt, sollen wir da sein, anstatt unserer Ohnmacht zu entfliehen.

Nicht zuletzt tun wir das auch für uns selbst, um nicht zu verrohen. Denn jeder warmherzige Blick, jedes persönliche Wort kann Wunder wirken: das Wunder zwischenmenschlicher Wertschätzung. Und Karlheinz? Fuhr mit Mona in seinem Auto an seinen Platz an der Sonne. Es waren die glücklichsten
Minuten seines Lebens, ehe er eines Morgens friedlich „eingeschlafen war“. Nicht als schwerstkranker hoffnungsloser Patient. Sondern frisch verliebt in das Leben.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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