"Man spürt den besonderen Moment"

Sein Porträt einer jungen Afghanin verschaffte dem amerikanischen Meisterfotografen Steve McCurry Weltruhm. Ab 7. Juli zeigt er in Wien eine pretiosenhafte Auswahl seiner Werke. Mit News sprach der Meister der Porträtkunst über das Foto, das sein Leben veränderte, den richtigen Augenblick und die Freiheit

von "Man spürt den besonderen Moment" © Bild: christianjungwirth.com

In Fachkreisen wird das Abbild eines Mädchens mit grünen Augen und rotem Tuch die "Mona Lisa" der Fotografie genannt. So wie auch in einer Dokumentation über dessen Schöpfer, den heute 73-jährigen amerikanischen Starfotografen Steve McCurry. Die Präsentationen seiner Lichtbilder werden in jeder Galerie zu Blockbustern, in der Kunst vergleichbar mit Ausstellungen von Monet oder Cézanne. In Österreich hat Steve McCurry einen verlässlichen Partner gefunden, die Grazer Galerie Jungwirth. Die zeigt im Wiener Semperdepot von 7. Juli bis 24. September Pretiosen aus dem Schaffen des Meisterfotografen. Als News McCurry in seinem Domizil in Philadelphia erreicht, kommt das Gespräch sofort auf die "Aufnahme seines Lebens", wie er das Porträt eines afghanischen Mädchens nennt, und führt in die 1980er-Jahre. Ins Flüchtlingslager Nasir Bagh in Pakistan.

© atelierungwirth.com/Steve McCurry Steve McCurry, 73, schrieb mit dem Porträt des afghanischen Flüchtlingsmädchens Sharbat Gula Fotografiegeschichte

So entstand das Bild

Seit Stunden schon beobachtet da der junge amerikanische Fotograf Steve McCurry das Leben im Lager. 100.000 Vertriebene aus Afghanistan bangen auf acht Hektar um ihre Existenz, wagen an Zukunft gar nicht zu denken. Die Russen sind in ihr Land einmarschiert, bombardieren selbst die kleinsten Dörfer, zerstören das, was ein bescheidenes Zuhause bot. McCurry spürt das Leid dieser Elenden, die Schmerzen, das Trauma von Verlust und Schrecken. Doch er findet kein Gesicht, das ihn dieses Leid so abbilden lässt, dass die friedliche Welt es wirklich versteht. Er will aufgeben, überlegt, seine Motivsuche an einem anderen Ort fortzusetzen, da ertönen helle Mädchenstimmen. Er folgt dem Klang, der ihn in eine behelfsmäßig errichtete Schulbaracke führt. McCurry betritt das Klassenzimmer. Eine Lehrerin unterrichtet eine Mädchenklasse. Da trifft ihn der Blick eines grünen Augenpaares, als deren roter Schal das anmutige Gesicht freigibt.

»Beim Fotografieren ist es wie beim Klavierspielen. Wenn Sie nur einmal in der Woche üben, werden Sie nie gut«

Der Fotograf spürt sofort, das ist das Besondere, nach dem er gesucht hat. Doch eine falsche Geste, eine unüberlegte Handlung, und das Bild wäre verschwunden. Behutsam versucht er, das Vertrauen des scheuen Wesens zu gewinnen. Informiert die Lehrerin über sein Vorhaben, seine Mission. Die willigt ein. Er könne die Schülerinnen ablichten. Die Teenager haben Freude am Posieren, wirken entspannt. Doch nicht alle: Die mit dem roten Schal hält sich beobachtend im Abseits. Der Fotograf ignoriert sie, tut, als würde ihn die eine nicht interessieren. Das weckt ihre Neugier. Plötzlich ist sie bereit, sie signalisiert, dass sie fotografiert werden will. Ihr Porträt ist auf Film gebannt. Wochen später, im Juni 1985, offenbart sich das Leid ihres Volkes der Welt auf dem Cover des Magazins "National Geographic".

© atelierungwirth.com/Steve McCurry SANDSTURM. Rajasthan, Indien 1983. Das Bild charakterisiert McCurrys Kunst, ins Beängstigende ausartende Alltagsvorgänge auf den Punkt zu bringen. Es entstand, wie fast alle seine Meisterwerke, aus dem Zufall, an einem Highway

Was wurde aus diesem Mädchen?

Was dann geschah, ist Fotografiegeschichte. "National Geographic" verbucht die höchste Auflage seiner Gründung, und McCurry, ist, was seinen Beruf anlangt, ein "gemachter Mann".

Der Weltruhm hält bis heute, fast 30 Jahre nach seiner Entstehung. "Es ist ein sehr gutes Porträt geworden. Es erzählt, was damals in Afghanistan passiert ist, und das waren schreckliche Dinge. Die Menschen waren schockiert, traumatisiert. Ich machte dieses Foto, um all das zu vermitteln", blickt McCurry auf seine frühe Arbeit zurück. Er spricht langsam, hält im fernmündlichen Gespräch ständig inne, man hört, dass er beschäftigt ist. Bereitet er seine nächste Reise vor? Noch nicht, sein Tun ist auf Wichtigeres gerichtet: In Philadelphia ist es acht Uhr am Morgen und McCurry muss seine sechsjährige Tochter in die Schule bringen.

"Es war reiner Zufall, dass ich dieses Foto gemacht habe", setzt er während der morgendlichen Verrichtungen fort. Die Wirkung des Fotos habe er damals nicht abschätzen können. Er wusste nicht einmal, wer die Schülerin auf dem Bild war. Aber "National Geographic" wollte es wissen, doch erst 18 Jahre später.

© atelierungwirth.com/Steve McCurry BAGUETTES FÜR DIE ÄRMSTEN. Der Bub in blauen Flip Flops in Mauretanien ist mit seiner Mutter und Tante auf Almosen angewiesen

Über die Jahre ist sie zu einer Art Ikone für das Leid von Flüchtlingen geworden. McCurry beginnt seine Suche im Lager in Pakistan. Dort wird ihm eine Frau mittleren Alters vorgestellt, die das Mädchen auf dem Bild sein könnte. Sie ließ sich mit dem Porträt des Mädchens fotografieren, aber die Frau auf dem Cover ist eine andere, das sieht der Fotograf. Ein Forensiker erbringt mit kriminalistischen Methoden, die Gesichtszüge und die Iris vermessend, den Beweis, dass McCurry recht hat. Im Lager findet der Fotograf einen Mann, der sich an das Mädchen erinnern kann. Sharbat Gula ist ihr Name, sie lebt wieder in ihrer Heimat Afghanistan in der Nähe von Kabul.

Wiedersehen nach 18 Jahren

Als McCurry ihr dann fast zwanzig Jahre später gegenübersteht, erkennt er die grünen Augen gleich wieder. Ihre Gestalt hat sie in einen blauen Schleier gehüllt. Ein Jahr, nachdem er sie zum ersten Mal porträtierte, wurde sie verheiratet. Inzwischen ist sie Mutter von vier Kindern. Jetzt muss er den Ehemann um Erlaubnis für ein Porträt fragen. Das Leid, das sich dem früheren hinzugefügt hat, manifestiert sich in ihrem Gesicht. Bevor sie nach Afghanistan kam, war sie in Pakistan verhaftet worden, weil sie einen gefälschten Pass bei sich trug. Sie konnte glaubhaft darauf verweisen, dass sie das Schreiben und Lesen nie erlernt hat.

Mit McCurry und dessen Schwester Bonnie bleibt sie in Kontakt. Als die Taliban 2021 ,nach dem Abzug der amerikanischen Truppen, in Afghanistan an die Macht kommen, gewährt Italien der Frau und ihren vier Kindern Asyl. Ein fünftes Kind und der Ehemann sind zuvor verstorben. Wie alt die Frau heute tatsächlich ist, das wisse nicht einmal sie selbst, erklärt McCurry, "In Afghanistan wurden in den Achtzigerjahren keine Geburtsdaten aufgezeichnet."

Dreißigmal hat McCurry bisher Afghanistan bereist. Das Attribut Kriegsfotograf lehnt er ab, denn er richtet den Fokus seiner Kamera bevorzugt auf Menschen. Eindrücklich blicken die Menschen von seinen Porträts den Betrachter an. Ein Arbeiter mit Helm und Zigarette, ein Mann, der auf seiner Schulter eine alte Nähmaschine vor dem Monsun rettet, das Wasser reicht ihm bis zum Hals. Verstörend die dunklen Augen eines kleinen Buben, der sich eine Pistole an die Schläfe hält. Ein anderes Bild zeigt ein Kind mit einem Gewehr in der Hand, wie eine Schärpe trägt es den Gürtel mit Munition.

© atelierungwirth.com/Steve McCurry IKONE DER SCHWERARBEITER. Das Porträt dieses Bergmanns aus einer afghanischen Kohlenmine ist ein Exempel für McCurrys Kunst

Blick in die Seelen

McCurry lässt mit seiner Arbeit in Seelen blicken. Seine Bilder, exemplarisch das Porträt eines betagten, weißbärtigen Mannes, bestechen mit kräftigen, leuchtenden Farben. Haben ihn dazu die alten Meister, etwa gar Rembrandt, inspiriert?"Wir saugen doch alle möglichen Einflüsse auf. Wir sehen, hören etwas, lesen immer wieder etwas, das uns an etwas Anderes erinnert. Wir sind doch alle von Schriftstellern, Dichtern, Malern oder Politikern beeinflusst. Das ist Teil unseres Lebens", umschifft er eine konkrete Antwort.

Wie wählt nun der Meister seine Motive aus? Wie weiß er, wann ein Bild gut ist? "Das weiß man in dem Augenblick, in dem man es macht, nicht. Man spürt aber den starken Moment, das Besondere, das ist Intuition. Sie können sich Fotografieren so vorstellen wie Klavierspielen: Wenn sie nur einmal in der Woche üben, werden sie nie gut. Wenn Sie jeden Tag Klavierspielen und das 20,30 Jahre, dann kann schon etwas daraus werden, dann werden Sie gut", beschreibt er seinen Beruf. "Ich glaube aber nicht, dasss man etwas so Besonderes bis zu diesem Grad spüren kann, wenn man ein Foto macht", kommt er noch einmal auf das Porträt von Sharbat Gula zu sprechen. "Wichtig ist Beharrlichkeit. Es geht immer darum, am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein."

Das manifestiert sich exemplarisch in seinen Arbeiten. Oft harre er Stunden an einem Ort aus, warte auf das ideale Licht, auf etwas, das sich ereignet. "Manchmal kehre ich bis zu 30-mal an eine Stelle zurück. Man muss sich Zeit nehmen, wenn man etwas erreichen will."

© atelierungwirth.com/Steve McCurry SRI LANKA, 1995. Fischer staksen an der südlichen Küste von Sri Lanka auf Stelzen durch das seichte Wasser, um die Fische nicht aufzuscheuchen. Ein Beispiel für McCurrys kunstvollen Einsatz leuchtender Farben. Sri Lanka ist eines von seinen bevorzugten Gebieten

Ändert die digitale Fotografie etwas an seiner Arbeitsweise? Er sei von einem Tag auf den anderen umgestiegen, sagt McCurry. "Es gibt so viele Vorteile beim digitalen Fotografieren. Es gibt da kein Richtig oder Falsch. Das ist eine persönliche Entscheidung. Wie ich fotografiere, geht niemanden etwas an. Den Unterschied zwischen analog und digital können Sie sich vorstellen. Wenn Sie sich weiterhin mit einem Pferd fortbewegen wollen, oder wenn Sie behaupten, dass Sie auf einer Schreibmaschine ihre Gedichte besser verfassen, dann ist das Ihre Sache."

Wann war für ihn klar, dass die Fotografie seine Berufung ist? War es der Moment, als der 12-jährige Steve bei seiner Großmutter ein Magazin mit Fotos vom Monsun in Indien studierte? Oder inspirierte ihn der Vater, ausgebildeter Ingenieur und und leidenschaftlicher Fotograf? Oder waren es große, berühmte Meister der Lichtbilderei? "Das ist eine Kombination von vielem und von vielen. Mein Vater und mein Onkel gehören dazu." Einer der Fotografen, die ihn am meisten geprägt hätten, sei der epochale Franzose Henri Cartier-Bresson gewesen, bekennt er endlich.

One-Way-Ticket nach Indien

Bevor er sich ganz dem Fotografieren widmete, schloss McCurry ein Studium der Film-und Theaterwissenschaft ab. Seine wahre Leidenschaft habe immer dem Reisen gegolten, sagt er. Er wollte die Welt sehen, weg aus der amerikanischen Vorstadt von Philadelphia. Der Beruf des Fotografen kam ihm dafür ideal vor. "Mit 22 Jahren kaufte ich mir ein One-Way-Ticket nach Indien. Denn ich wusste nicht, wann und von wo ich zurückkommen werde", blickt er zurück.

Losfahren, ohne zu wissen, wohin ihn die Reise führt, das sei seine Triebfeder gewesen. Ein Blick auf seinen Kalender verrät, dass er es auch heute noch so hält. Noch in diesem Jahr werde er nach Polynesien und Guatemala fahren. Was ist mit der Ukraine? Auch die stehe auf seiner Agenda, aber er könne noch nicht sagen, wann.

© atelierungwirth.com/Steve McCurry FEST DER FARBEN. Am ersten Vollmondtag des Monats Phalgun (Februar/März ) huldigen die Hindus ihren Göttern Radha and Krishna. Das Foto entstand während einer von McCurrys 60 Indien-Reisen in Radschastan 1996 und zählt zu seinen farbmächtigen, zentralen Arbeiten

Wie geht er mit dem Risiko um, auch einen Flugzeugabsturz soll er einmal überlebt haben. Hatte er denn nie Angst um sein Leben?"Sehr oft. Aber das ist ein bisschen ein Mysterium, es ist schwer zu beschreiben. Man muss spüren, dass man auf einer wichtigen Mission ist. Wenn man es für wichtig hält, eine bestimmte Geschichte zu erzählen, oder wenn man Zeuge von etwas wird, das man für etwas Historisches hält, muss es das Risiko wert sein. Aber Sie müssen das ganz für sich selbst tun." Mit ausgiebigen Recherchen vor seinen Reisen gibt sich McCurry nicht ab. "Mir geht es mehr um Entdeckungen, nicht so sehr um Recherchen. Ich ziehe mit großer Neugier los und dann mache ich mich auf die Suche."

Wie? Liegt er auf der Lauer wie eine Raubkatze, die auf Beute wartet? "Beobachten, Neugier und Praxis. Wenn Sie eine visueller Mensch sind, werden Sie etwas entdecken, das es wert ist, abgebildet und bewahrt zu werden." Noch etwas: Kann er sich vorstellen, dass einmal eine künstliche Intelligenz seinen Job übernimmt?

"Wer weiß? Einmal werden Computer vielleicht wichtiger als Menschen, wer weiß, ob sie uns nicht sagen, dass sie die Welt übernehmen? Versuchen wir, ehrlich und nett zu sein und zu verstehen, dass es auf der Welt nichts Wichtigeres als die Liebe gibt."

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 25+26/2023.