"Where are
we now?"

Kaup-Haslers Abschied bei Jubiläumseröffnung des steirischen herbsts.

von Steirischer Herbst - "Where are
we now?" © Bild: Wolf Silveri

Der 50. steirische herbst ist Freitagabend in der Grazer Helmut-List-Halle feierlich eröffnet worden. Intendantin Veronica Kaup-Hasler skizzierte den "genetischen Code" des Festivals: Diskontinuität, Bruch mit der jeweils etablierten Tradition, Selbstbefragung und Infragestellung. "Und gerade diese waren und sind Garant der Dauer. Es ist die Wildnis, die Kultur hat", so die Eröffnungsworte.

Eine Politik, die eine Kunst förderte und mehr noch: einforderte

Kaup-Hasler bezeichnete die Anfänge des "in Europa einzigartige Festivals" als einen "wuchernden Organismus, einen Hybrid - gewachsen aus der Initiative einzelner Kulturschaffender und kultureller Institutionen, die sich mit der geistigen, reaktionären Enge im bürgerlichen Graz nicht abfinden wollten". Der herbst sei in einem Zeitgeist entstanden, der sich gegen das Weiterleben des Nationalsozialismus gestellt habe: "Von einer visionären liberalen Kulturpolitik, die damals nicht opportunistisch auf Mehrheitsfähigkeit schielte. Eine Politik, die eine Kunst förderte und mehr noch: einforderte, die sie selbst und eine konservative bürgerliche Klientel immer wieder auch angegriffen hat", so die Intendantin laut ihrem schriftlichen Redemanuskript.

Der Künstler ist nicht der Dekorateur einer bürgerlichen Welt

Es sei den Gründern dieser Zeit um die "bewusste Einsetzung eines kulturellen Reibebaums" gegangen. "Heimat ist Tiefe, nicht Enge," zitierte die Intendantin Hanns Koren, der mit Mitstreitern wie Emil Breisach, Kurt Jungwirth oder Wilfried Skreiner nicht müde geworden sei, "das Sperrige, das an den Rändern Befindliche einzufordern und zu fördern". Sie zitierte weiter aus der Gründungsrede von Koren: "Der Künstler ist nicht der Dekorateur einer bürgerlichen Welt, deren sentimentale Gefühle, deren heroische Erbauungen und deren sinnliche Empfindungen er zu illustrieren hat, sondern er ist heute der Mitwissende, der Mitleidende und der Mitschuldige geworden an dieser Zeit, an ihren Zuständen, und seine Werke sind die Urkunden, mit denen er diese Zugehörigkeit ausweist und mit denen er sich auch verpflichtet, einen neuen Weg in eine neue Welt zu suchen."

"Where are we now?" ist das Leitmotiv des 50. herbsts, der nie müde geworden sei, "stets neue und durchaus widersprüchliche Positionen zur jeweiligen Gegenwart zu beziehen." Es sei ein "Zeiterkundungsfestival, dem das Nomadologische eingeschrieben war" - zitierte Kaup-Hasler ihre Vorgänger. Es sei aber auch eine Geschichte, "die von Anfang an eine Geschichte des Zweifels an der Institution selbst war - schon 1972 wurde der baldige Tod des Festivals konstatiert, aus den Abgesängen des steirischen herbst ließe sich ein mehrstimmiges Chorwerk in Auftrag geben." Der steirische herbst habe dennoch Dekaden überlebt. "Wo sonst Weiterführung, Kontinuität von Kulturinstitutionen eingefordert wird, hat der herbst eine ganz andere Strategie entwickelt: Die Tradition der Brüche und der permanenten Neuerfindung."

»Die Steiermark ist schon lange da«

Für Kaup-Hasler war es die letzte Eröffnungsrede, denn nach zwölf Saisonen - sie ist die bisher längstdienende Leiterin - geht die Intendanz 2018 an Ekaterina Degot über. Damit bleibt die Nochintendantin der Diskontinuität des herbsts treu und öffnet die Tür für eine Neuinterpretation des Festivals. Sie bedankte sich zum Schluss beim Publikum, den vielen Künstlern, dem Team des steirischen herbst und ihrer Familie: "Sie alle haben mein Leben verändert."

Mit den Worten von Elfriede Jelinek erklärte Kaup-Hasler den 50. steirischen herbst für eröffnet: "Die Steiermark ist schon lange da. Und jedes Jahr wieder trifft sie der Schlag. Er reißt sie aus sich heraus, es stimmt, es ist wieder Herbst geworden. Ob wir ihn diesmal überleben? Ob dieses Land von seiner eigenen Bildfläche verschwinden und anderen Ländern Platz machen wird? Nein. Wird es nicht. Im Gegenteil. Es wird sich behaupten, es wird sogar noch an Boden gewinnen. Keiner wird es überspringen und woandershin gehen können. Es wird selber überspringen. Und in diesem Überspringen, in diesem Sprung wird viel geschehen, das vielleicht eine Zeit lang in der Luft stehen bleibt, dann aber vor den Sehenden, die dort wartend stehen, aufprallt und sie mitreißen wird, egal, wer oder was da springt."

Lustvoller Auftakt in "Gang Bang"-Manier

Der 50. steirischer herbst ist Freitagabend mit einer Performance der Dänin Mette Ingvartsen eröffnet worden. "to come (extended)" basiert auf einer ihrer frühen Werke, baut aber noch mehr den Einfluss der Lebensumgebung ein. Zu sehen sind 15 Tänzerinnen und Tänzer in Ganzkörperanzügen wie sie sich in Sex-Stellungen bringen und damit die Absurdität der sexualisierten Gesellschaft vorzeigen.

Lange war die Eröffnungs-Performance still: Die Tänzer und Tänzerinnen, von denen nicht einmal die Gesichter zu sehen waren, damit sich der Zuseher noch besser in ihnen finden kann, stellten sich zu expliziten Posen zusammen. Langsam und unaufgeregt arrangierten sich einzelne Pärchen oder Gruppen - jeder mit jedem. 30 Minuten lang, ohne einen einzigen Ton und das Publikum wagte in der Stille in der Helmut List-Halle kaum zu husten. Erst nach einer halben Stunde geriet mehr Bewegung in das Treiben, das - nach wie vor in Stille - zu einem Gewusel wuchs und einen Hauch komischen "Gang Bang" mit sich brachte.

Buffet der Lüste

Plötzlich liefen die Tänzer zwischen die Tribünen und ließen das Publikum etwas fragend zurück. Verhaltenes Klatschen wurde schnell wieder eingestellt als allen klar wurde, dass es nur der erste "Akt" war. Die Männer und Frauen zogen ihre blauen Anzüge aus, dafür weiße Socken und Turnschuhe an. Ansonsten blieben sie splitterfasernackt und rannten so zurück auf die Bühne, um sich erneut in Gruppen wie Skulpturen aufzustellen. Im zweiten "Akt" blieben die Tänzerinnen und Tänzer weitgehend in gleicher Position, stimmten aber gemeinsam in einen Chor aus Lustschreien ein, der abermals überzogen dargestellt wurde und aus einem Porno stammen hätte können.

Das Publikum saß nach wie vor gespannt da, konnte sich aber vereinzelte Schmunzler und Lacher ob der absichtlich übertriebenen Darstellung nicht verkneifen. Wirklich locker wurden die Zuschauer im dritten "Akt", bei dem alle Tänzerinnen und Tänzer bunt gemischt minutenlang zu Benny Goodmanns "Sing, Sing, Sing" im Lindy Hop tanzten - nach wie vor nackt und mit doch sehr gewagten Einblicken.

Der Gesellschaftstanz am Ende der Performance ist eine Weiterentwicklung von "to come" und sollte ebenfalls Lust mitbringen, schilderte Ingvartsen in einem Interview im Begleitkatalog zum 50. steirischen herbst. Es sei ein Tanz, der Kapazität zur Erzeugung von Freude habe - und zwar nicht nur für die Tänzer, sondern auch für den Zuschauer. Wahrlich klatschte das Publikum am Ende mit und verabschiedete die Tänzer und Tänzerinnen, unter denen sich auch Ingvartsen selbst befand. Drei Mal applaudierten die Zuschauer die Tänzer zurück auf die Bühne - ehe eine etwa 15 Meter lange Tafel voller Köstlichkeiten hereingeschoben wurde und zu einem Buffet der Lüste lud. Dieses wurde ebenfalls von der Dänin konzipiert und bildete mit Elektro-Brass von "Die Vögel" einen genussvollen Abschluss.

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