Wenn der Horizont
in Mannheim endet

Kennen Sie jemanden, der wegen der Regie in die Oper geht? Aber eine zusehends weltfremde Feuilleton-und Dramaturgenblase hat, so scheint es, kein anderes Thema mehr

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Wo sich das Schicksal einer Opernproduktion entscheidet, darüber sollte unter kunstaffinen Menschen keine Diskussion erforderlich sein: Im Orchestergraben werden Welten gebaut, die sie bevölkernden Personen beglaubigt und ihre Schicksale erfüllt. Die Libretti sind in (zumindest) 70 Prozent der Fälle zweitrangig: Selbst der von Verdi geschaffene "Don Carlos" ist nicht von Schiller, sondern letztlich von einem gewissen Mery und seinem Kollegen Du Locle. Bei Wagner, der auch ein großer Dichter war, liegen die Verhältnisse zwar eine Spur anders. Und Richard Strauss hat sich mit Hofmannsthal assoziiert und Oscar Wildes "Salome" vom ersten bis zum letzten Satz vertont. Aber kein gelesener "Ring" oder "Rosenkavalier" ist bisher über den Status des verdienstvollen Experiments hinausgelangt, und die Wilde'sche "Salome" hat sich aus den Theaterspielplänen verflüchtigt.

Weshalb ich das in so großer Umschweifigkeit ausführe? Weil sich die Wahrnehmung des deutschsprachigen Feuilletons grotesk von sämtlichen Realitäten abgespalten hat. Zum Beispiel wäre es eine Erhebung wert, wie viele Besucher der vier überbuchten Aufführungen von Strauss' "Frau ohne Schatten" (Premiere am 25. Mai in der Wiener Staatsoper) dem Resultat der Mühewaltungen des Regisseurs Vincent Huguet entgegenfiebern. Auch wüsste ich gern, wer die Rekordpreise der Salzburger Osterfestspiele entrichtet hat, um herauszufinden, was dem Regisseur Jens-Daniel Herzog zu Wagners "Meistersingern" eingefallen sein mag (es war nichts von Belang). Nach grober Peilung würde ich behaupten: Man hat die ansprechenden Besetzungen dankbar einberechnet, kommt aber in zweiter Linie zu den nicht täglich gehörten Werken und in erster Linie zum Dirigenten Christian Thielemann, dem in diesem Repertoire nur äußerst schüttere Konkurrenz droht.

Lese ich aber die Einlassungen des vor allem deutschen Feuilletons, so hangelt sich die Wahrnehmung des Dirigats (und auch der Sängerleistungen) nur kurz am Platitüdenkanon entlang, wobei "schlank" und "durchhörbar" statistischen Spitzenrang einnehmen. Dafür wird mehrspaltig getadelt, dass Regisseur Herzog, derzeit Intendant in Nürnberg, mit Wagners "umstrittenem" Werk nicht annähernd so radikal umgesprungen sei wie seinerzeit am Vorgängerdienstort Mannheim. Auf Grund ihrer nationalsozialistischen Konnotationen seien die "Meistersinger" ja mittlerweile der "unbekannte", weil kaum noch gespielte Wagner.

Wie belieben? Ein Blick auf die Auführungsstatistik zeigt, dass die "Meistersinger" in London, Mailand, Paris, Tokyo, Melbourne, München und Dresden, an der Berliner Staatsoper und (klar) in Bayreuth gespielt werden oder kürzlich gespielt wurden. Und "umstritten"? Das gesamte alberne Getöne beruht einzig darauf, dass Hans Sachs im dritten Akt zur Wertschätzung der "heil'gen deutschen Kunst" aufruft und dass Hitler das Werk m0chte. Na und? Im nämlichen Monolog weist der Poet Sachs den arroganten Junker Stolzing unmissverständlich zurecht: "Nicht Euren Ahnen, noch so wert" verdanke er das Happy End, "nicht Eurem Wappen, Speer noch Schwert". Sondern "dass Ihr ein Dichter seid". Abgesehen davon: Wer meint, dass deutscher Nationalismus 50 Jahre nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon dasselbe sei wie deutscher Nationalismus 75 Jahre nach Auschwitz, ist ein historischer und intellektueller Kretin. Und wer in seinen Vorlieben durch Hitler beeinflussbar ist, der hat in der Tat in London, Mailand und Paris nichts verloren. Der schafft sich seine eigene, durch Nürnberg und Mannheim begrenzte Realität, die sich durch die maßlose Überschätzung der Regie in exemplarischer Provinzialität offenbart.

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