Warum Menasse
nicht Relotius ist

Im Namen der Korrektheit werden Künstler desavouiert und in Causen, die nicht die ihren sind, zur Rechenschaft gezogen. Die Denunziationsgesellschaft nimmt ihren Weg

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Und wenn es sonst nichts gewesen wäre als dieser erhellende Akt der Harmonisierung eines komplizierten Parteienverhältnisses: Dann hätte Robert Menasse das in den vergangenen Wochen Stattgefundene nicht sinnlos erlitten. "Politiker von CDU und AfD im Landtag von Rheinland-Pfalz" hätten die Landesregierung aufgefordert, dem Autor die Carl-Zuckmayer-Medaille abzuerkennen. "Vor dem Hintergrund der Relotius-Affäre", so las man weiter, wäre "die Preisverleihung an einen überführten Zitatenfälscher taktlos und unangemessen". Die SPD-geführte Landesregierung tat zwar verdienstvollerweise nichts dergleichen: Menasse bekam seine Medaille. Aber im Lichte jüngster Ereignisse befürchte ich, dass dieser Akt der Einsicht ein Einzelfall und die Machtergreifung der Niedertracht, die Gesetzwerdung der Begriffswirrnis nicht aufzuhalten ist. Rekapitulieren wir.

Der "Spiegel"-Journalist Claas Relotius hat seiner erkennbar definierten Anbeterschaft geschenkt, was ihr das Leben zusehends vorenthält: Sozialkitsch und klare Gut-böse-Befunde in einer heillos verworrenen Zeit. Menasse hingegen hat in einem Essay den lang verstorbenen deutschen Politiker Walter Hallstein nicht wörtlich, sondern nur sinngemäß zitiert. Mehr noch: Im Roman "Die Hauptstadt" verlegte er eine Rede des nämlichen verdienstvollen Europa-Pioniers an die Auschwitz-Gedenkstätte.

Enthüllt haben das deutsche Zeitungen unter dem Rechtfertigungsdruck der Relotius-Affäre, und ich zitiere (mit Genehmigung) aus einer Kurzkorrespondenz, die ich zur Causa mit Elfriede Jelinek führen durfte: "Ja, grad die Deutschen hams notwendig! Wenn man alle erfundenen Zitate zusammennehmen würde, gäbs keine Bücher mehr! Es ist absolut lächerlich, aber leider typisch. DA sind sie plötzlich genau, wenns um Kunst geht. In der Politik schon nicht mehr so." Noch ein wenig ausgeführter bedeutet das, dass demnächst ein vom deutschen Feuilleton bemühter Compliance-Beauftragter den Finger auf historische Unschärfen in "Richard III." und "Maria Stuart" und mangelnde Zitatgenauigkeit in "Krieg und Frieden" legen wird.

Die hier vorherrschende Verwechslung ist eine fundamentale: Der Journalist verhält sich zum Schriftsteller wie ein Tischler zum Bildhauer. Der Journalist hat die Welt mit Fakten zu möblieren, der Schriftsteller (und jeder andere Künstler) schafft eigene Welten. So kam es auch zum aberwitzigen Disput um das Plakat, das der Maler Christian Ludwig Attersee für das Ski-Weltcuprennen auf dem Semmering gefertigt hat: Ein Künstler sieht anders und fühlt anders. Nicht der Künstler hat sich den Erwartungen der Welt anzudienen, die Welt hat im Sinne ihrer Fortentwicklung zu versuchen, die Sprache des Künstlers zu verstehen. Anders formuliert: Es war der erste Höhlenmaler, der den Sprung vom Affen zum Menschen geschafft hat.

Dass beide Fälle zu solchen werden konnten, war eine Machtbekundung der Denunziationsgesellschaft. Womit wir zur Affäre Relotius zurückkehren. Einer hat vom Sturz ins Bodenlose, den der in seinen Wahnwelten verschollene Darling aller Wohlmeinenden vollziehen musste, unzweifelhaft profitiert: Der beim "Spiegel" teilverpflichtete freie Journalist Juan Moreno hat während einer gemeinsamen Arbeit in den Recherchen des gefeierten Kollegen Ungereimtheiten entdeckt. Hat er von Relotius Aufklärung gefordert? Ihn zur Rede gestellt? Nein, er hat sich "an die Chefs" gewendet und zuerst auf Granit gebissen. Daraufhin hat er alten Geschichten des Kollegen hinterherrecherchiert und ihn endlich mit Getöse auffliegen lassen. Jetzt ist er berühmt, "Kopf des Tages", Licht im Branchendunkel. Dass er den Borderliner aus dem Verkehr befördert hat, ist gewiss ein Verdienst. Von Lichtgestalten habe ich allerdings eine andere Vorstellung.

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