Gerhard Roth:
Blick über das Inferno

Ein belletristisches Experiment, ein Kriminalroman, ein Reiseführer? Der österreichische Weltliterat Gerhard Roth bleibt unergründlich. Sein Roman "Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier" beschreibt eine mörderische Flucht durch Venedig.

von Sommerbücher - Gerhard Roth:
Blick über das Inferno © Bild: News Herrgott Ricardo

Dass es sich in Venedig gewinnabwerfend sterben lässt, ist literaturgeschichtlich gut belegt. Der hier aber ist anders, neu. Kein Untergangssüchtiger im Schönheitsrausch wie Thomas Manns Aschenbach, auch keiner wie Ray Garrett, der in Patricia Highsmiths sehr kaltem Venedig ums Überleben pokert (vom literarischen Tagesgeschäft gar nicht erst zu reden): Der Übersetzer Emil Lanz will nichts als sterben. Auf der Insel Torcello in der nördlichen -der toten - Lagune unter einem Hollerbusch kauernd, kommt der Betrunkene mit sich überein, das Jammertal der Welt zu verlassen.

Zwei Jahre schon lebt Lanz am Lido, um "Gullivers Reisen" zu übersetzen. Seine Frau ist bei einem Flugzeugabsturz gestorben, ihren Geliebten zur Seite, wie sich im Zuge der Formalitäten herausgestellt hat. Jetzt bleibt nichts mehr zu tun, als die Pistole zu ziehen und sich zu erschießen. Da zerren drei schwarze Gestalten eine dritte ans Ufer und schneiden ihr die Kehle durch. Lanz ist Zeuge eines internen Vorgangs unter Auftragsmördern geworden, und wie geht das zu, dass er plötzlich um sein Leben rennt? Auf der sich überschlagenden Flucht durchrast er ein mit der Gewissenhaftigkeit eines Reiseführers dokumentiertes Venedig. Er kämpft sich durch verfallendes Kulturgut und angeschwemmten Unrat, touchiert die Hölle der europäischen Realpolitik, durchmisst einen Kosmos an Rätseln, Chiffren und literaturgeschichtlichen Bezügen und gelangt endlich an die letzten, archetypischen Ängste und Begierden.

Nichts in Roths Plan ist dem Chaos und dem Zufall überlassen, auch nicht das Projekt des Übersetzers Lanz. "Ein Wunder" nennt Roth den 1726 veröffentlichten Roman des irischen Priesters und Aufklärers Jonathan Swift. "Eigentlich ist ,Gulliver', der Anglisten-Logik folgend, ein rein satirischer Roman. Aber gleichzeitig ist das Buch auch ein unendlich langer Trip, der mit der Satire derart verschmilzt, dass man beide nicht auseinanderhalten kann. Man kann das als Traumfahrt lesen, so wie ich als Kind, oder man findet als historisch informierter Mensch zu fruchtbaren Antworten."

Und sein eigenes Buch, dessen Titel Shakespeares abschiedsvisionärem "Sturm" entnommen ist?"Eine Mischung. Bei mir nehmen Bewusstes und Unbewusstes gleichen Rang ein. Die geistig behinderten Künstler von Gugging haben mich immer interessiert. Ich habe gestaunt, was aus dem Unbewussten alles herausfließt. Aber ebenso interessiert mich guter Journalismus mit seiner Untersuchung der Realität."

Das andere Opiat

Seine eigenen, kursorischen Experimente mit LSD und Haschisch seien Jahrzehnte vorbei, fügt er hinzu. Empfänglicher sei er für das von Karl Marx beglaubigte Opiat: die Religion und ihr Derivat, die Esoterik. "Das kommt wie Ebbe und Flut", sagt er. "Lange Zeit ist Ebbe, und dann gibt es Momente, da interessiert es mich von der kultischen Seite. Zum ersten Mal hat mich das Gefühl mit zwölf Jahren im Markusdom in Venedig überwältigt. Die unglaublich schönen Mosaike haben mich umgeworfen. Das habe ich viele Jahre im Kopf mit mir herumgetragen und bin immer wiedergekommen. Die Verzauberung wirkt bis heute, wenn ich die Gegenwelt des Markusdoms betrete, in der eigentlich jeder Mensch ein Fremdkörper ist. Ich kenne mich in fast allen Religionen aus", kommt er auf die Frage zurück. "Sie nehmen den größten Teil meiner Wiener Bibliothek ein. Auch über Okkultismus habe ich viel gelesen, weil ich diese Dinge als Ausformungen des Unbewussten sehe. Das hat mich auch selbst angeregt, beim Schreiben Grenzen zu überschreiten."

Gibt es ein Jenseits? "Ich kann mir die Schöpfung als Energieform vorstellen. Aber an ein Weiterleben nach dem Tod zu denken, das übersteigt meine Vorstellungskraft. Vielleicht ist es ein tiefer Schlaf?"

Der große, massige Mann wirkt erschöpft und angegriffen. In diesen Tagen ist er 77 geworden, und die vergangenen sechs Monate waren keine leichten gewesen. Zehn Stunden Arbeit pro Tag und keine Pause, rechnet er vor. Auch nicht zu Weihnachten, denn da waren die Korrekturen für den nun erschienenen Roman zu lesen: den zweiten Band der Venedig-Trilogie, deren dritter schon seit März fertig ist und der Veröffentlichung harrt.

"Bei mir ist das immer so", sagt er. "Meine Arbeit verträgt keine Pausen. Ich bin auf sie so süchtig wie andere auf Rauschgift. Ich setze mich ständig selbst unter Druck und beschäftige mich schon beim Schreiben mit neuen Projekten, quasi um Atem zu holen und nicht immer in das Gleiche hineinzurennen", beschreibt er die aufreibende Selbstdisziplinierungsstrategie.

Der Land-Arzt

Als er den dritten Romanzyklus seines riesig dimensionierten Schaffens abgeschlossen hatte, zog ihn die Unruhe wieder nach Venedig. "Da hat mich die Lungenentzündung erwischt", sagt der lebenslange Diagnostiker von Krankheit und Verfall. "Ein kleiner Arzt" sei er schon als Kind gewesen, als er in der väterlichen Praxis die Kranken beobachtete und Fliegen mikroskopierte. Samstags rückte man gemeinsam zu Hausbesuchen ins Umland von Graz aus, da durfte das Kind dem Vater das Verbandszeug reichen und die Injektionsnadeln sterilisieren.

Ernste Symptome diagnostiziert er nun Österreich, dem angegriffenen Herzen Europas. "Wir sind auf das, was wir jetzt erleben, seit Langem zugesteuert, weil eine Koalition mit der FPÖ nur so enden kann", sagt er und kommt zum Besorgnis erregenden Größeren. "Die Rückbesinnung auf den Nationalstaat hat Europa erfasst. Viele Menschen gehen auf Reisen, um die Schönheiten Europas kennenzulernen, in der Jugend gibt man freudig dem Wandertrieb nach. Aber auf Menschen, die gegen die Armut kämpfen, sieht man mit Neid herab, rechnen ihnen ihre Kosten vor und spielt sie gegen die Armen unseres Landes aus. Auch hier gibt es die stille Armut, aber wie man an der Sozialdemokratie sieht, sind die Versuche, mit den Menschen in Kontakt zu kommen, hilflos. Das könnte man nur, wenn man bewusst auf die Menschen zuginge, die unter stiller Armut leiden: alleinerziehende Frauen oder Zugezogene, die um ihre Existenz kämpfen."

Und wer kümmert sich um die? "Die Freiheitlichen, indem sie sie angreifen. Etwas anderes als die Migrationsfrage haben sie nicht im Talon. Es wird Zeit, dass Europa eine akzeptable Lösung findet."

Die SPÖ, analysiert er, laboriere an mangelnder politischer Begabung ihrer Exponenten. Jeder Bauer oder Handwerker sei günstigenfalls zur Macht befähigter als ein redlicher, aber politisch talentloser intellektueller Mensch. Politische Begabung, präzisiert er, betreffe auch das Spiel von Lüge, Intrige, Hass und innerer Verachtung. Deshalb sei Schwarz-Blau die prognostizierbare Option nach der Wahl.

Noch Fragen offen? Ja, eine. Hat er sich tatsächlich für immer vom Kindheitssehnsuchtsort Venedig verabschiedet? Er habe dort jede Ecke mehrfach erforscht und fotografiert und denke an die Erschließung von Neuem, bestätigt er und holt unverhofft wohlgelaunt zum Schwinger aus. "Touristen sind die Weltkatastrophe. Sie reisen in Flugzeugen und Bussen, lassen sich in diesen Kinderwagen für Erwachsene durch Länder und Ausstellungen schieben, wissen nichts und zerstören alles." Zumindest auf dem Mount Everest wird man ihn nächstens nicht antreffen.

Der Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (26/2019) erschienen.