Der Kampf der Giganten

Die Lust am Siegen im Ruhestand

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

In der Garderobe des Tennisclubs zieht er den Knieschutz über den Fuß, streckt die Zehen, damit er nicht hängen bleibt, langsam über die Wade bis zur Mitte des Oberschenkels, sodass der eng umschließende, dennoch weichere Teil des strumpfartigen Schutzes über dem Knie liegt und die Narbe der Knieoperation bedeckt. Dann die gleiche Prozedur über den anderen Fuß, bis es aussieht, als wären zwei übergroße Raupen auf seinen Beinen hochgekrochen. Er schlüpft in die Schuhe, schnürt sie nicht zu fest, damit die während des Spiels schwellenden Füsse nicht schmerzen, prüft das Schweißtuch am Handgelenk und die Kappe. Sie ist zu eng, er löst das Gummiband am Hinterkopf etwas und zieht sie über die Stirn, das blanke Haupt gegen die Sonne schützend.

Vorsichtig beginnt er mit dem Aufwärmen, biegt die Finger zurück, außer dem kleinen, wo das Gelenk bereits verdickt ist, streckt die Arme, bewegt sie kreisförmig, schüttelt die Hände, um sie zu lockern und stemmt sich gegen die Garderobekästen, um die Schultermuskeln zu dehnen. Er spürt einen stechenden Schmerz rechts oben, zuckt zurück, jetzt nur nicht übertreiben, sonst ist das Spiel schon vor Beginn verloren. Zieht jetzt jedes Knie hoch, geht ein paar Schritte auf den Sohlen abrollend, schwingt die Beine nach vor und zur Seite. Links stützt ihn ein neues Knie, die rechte Hüfte ist bereits ausgetauscht, der Rücken schmerzt ein wenig, wenn er sich nach vor beugt und eine neue Weitsicht-Brille gleicht die Veränderung der Sehstärke aus. Er versucht, die müden Gebeine aufzuwecken, die lahmen Muskeln in Bewegung zu setzen wie ein Auto, das zu lange gestanden ist und der Motor nur mühsam nach mehreren Starts den gewohnten Laut von sich gibt. Das alles hindert ihn nicht, sich mit Tennisschläger und Wasserflasche auf den Weg zum Spielfeld zu machen.

Helden

Während der Monate Mai und Juni kämpfen unbeachtet von der Öffentlichkeit andere Helden auf den Tennisplätzen als die Stars von Paris Open und Wimbledon - Senioren und Seniorinnen wetteifern um den Meistertitel. TV-Stationen überbieten einander nicht, dieses Sportereignis zu übertragen. In Klubs werden keine Tribünen ausgebaut, keine neuen Sitzreihen hinzugefügt und die Sonnenterrassen für die VIPs nicht renoviert. Angefeuert vom eigenen Team spielen sie in Altersklassen von fünf Jahren - 65 plus, 70 plus, 75 plus und 80 plus. Wie die Profis kämpfen sie mit forehand und backhand, slice, topspin, drive, lob, overhead, stopp, volley, cross, longline, servieren mit spin oder flach übers Netz, alles etwas langsamer, doch mit Begeisterung und Siegeswillen. Tennis ist der beliebteste Sport unter den Älteren. Weltweit spielen etwa 240.000 Aktive in über 400 Turnieren. Es gibt Ranglisten für jede Altersgruppe und die ältesten Spieler haben ihren 90. Geburtstag bereits überschritten. Eine Studie in Dänemark ('Copenhagen City Heart Study') ergab eine durchschnittlich 9,6 Jahre längere Lebenserwartung für Tennisspieler und -spielerinnen. Sport, Strategie und der soziale Faktor ergeben eine ideale Kombination von Bewegung, intellektueller Herausforderung und Gesellschaft.

Leichtathletik

Doch nicht nur auf Tennisplätzen kämpfen Ältere um Siege und Medaillen. 2022 gewann in Muscat der Japaner Reiko Miura die Goldmedaille bei der Tischtennis-WM in der Gruppe 80 bis 85.2018 in Las Vegas siegte der Chinese Chen Yongning in der Gruppe 90 bis 95 Jahre. Bei den Leichtathletik 'Seniors-World-Championships' kämpfen auch noch die 90-bis 95-Jährigen um Medaillen im Fünf-Kampf: 100 Meter, 200 Meter, 800 Meter, Weit-und Hochsprung. Der 90-jährige Australier David Carr ist mit sechs Weltrekorden der absolute Star unter den Leichtathletik-Athleten.

Die 80-jährige Carol Lafayette-Boyd aus Kanada als Weltmeisterin im 100/200 Meter, Weitsprung und Drei-Sprung ist unerreicht unter den Leichtathletik-Athletinnen. Gottfried Suppan aus Spittal (Österreich) holte als 90-Jähriger die Goldmedaille bei der Senior-Ski-WM in Super G, RTL und Slalom. Fokke Kramer, 85 Jahre alt, aus Deutschland, ist der erste Läufer weltweit, der die zehn Kilometer auf der Straße in seiner Altersklasse unter 50 Minuten zurücklegte.

Während manche Ältere Tanzkurse buchen und mit Stöcken sich stützend durch den Wald stolpern, um fit zu bleiben, erleben andere im Alter den sportlichen Wettkampf als Sucht. Die direkte Konfrontation mit Gleichaltrigen ist für viele der absolute Höhepunkt auf der Skala der Glücksgefühle. Es geht es um Punkte, Tore, Sekunden, Zentimeter - einfach ums Siegen.

Forehand

Unser Tennisspieler hat inzwischen den Platz erreicht. Dort wartet bereits der Gegner. Sie begrüßen einander wie zwei alte Freunde, spielten bereits gegeneinander und kennen so manchen Trick des anderen. Man beginnt das Einspielen mit leichten Bällen übers Netz, kontrolliert sich nervös, bleibt die Hüfte stabil, gibt das Knie nicht nach, schmerzt die Achillesferse nicht mehr, oder immer noch. Die Bälle erreichen nicht zufällig den Gegner. Wie ist seine forehand, seine backhand, hat er Kontrolle über seine Bewegung, stolpert er nach der einen oder anderen Seite? Jede Schwäche wird beobachtet. Nach den leichten Bällen gehen sie zurück zur Grundlinie. Das kindliche Schupfen übers Netz ist vorbei, der eigentliche Kampf beginnt lange vor dem eigentlichen Kampf.

Unterschiedliche Taktik beherrscht das Einspielen. Da sind jene, die den Ball über das Netz knallen, um den Gegner einzuschüchtern: Gegen mich hast du ohnehin keine Chance. Sie stürmen das Spielfeld aufrecht wie Helden mit Stirnbändern, perfekt farblich abgestimmter Kleidung, und ausgerüstet wie die Finalisten in Wimbledon.

Konzentration

Andere lassen die Bälle sanft über das Netz gleiten, oft in hohem Bogen, als könnten sie es nicht anders, um den Gegner kurz vor Beginn in der Zufriedenheit zurückzulassen, dass es ein einfaches Spiel werden könnte. Sie betreten das Spielfeld langsam, oft schlurfend, wie alte Männer eben, leicht vorgebeugt, die Kleidung abgetragen und farblos, um dann während des Matches zu explodieren, erreichen jeden Ball in jeder Ecke und überraschen den Gegner.

Tennis ist ein Kopfspiel, Schach mit Bällen und Schlägern. Man versucht, in die Köpfe der Gegner einzudringen, sie zu verwirren, zu verunsichern. Jede Störung der Konzentration erhöht die Chance, einen Fehler zu machen - darum geht es, wer macht mehr Fehler. Mit dem Match beginnt ein erbarmungsloser Kampf, mit Aufschrei, Fluchen, Lachen und Stöhnen. Bemerkungen vor dem Spiel wie - es geht ja um nichts in unserem Alter - muss man ignorieren. Hier wird versucht, eine belanglose Situation vorzutäuschen, um während des Spieles rücksichtslos überrascht und überrannt zu werden.

Psychologie

Bei psychologischen Kampfmethoden scheint es keine Grenzen zu geben. Einer meiner Gegner sagte vor dem Spiel zu mir: "Das ist heute leider mein letztes Spiel für die nächsten sechs Monate, am Nachmittag kommt das Ergebnis der Biopsie, dann muss ich sechs Monate lang eine Windel tragen." Natürlich verlor ich. Wer kann mit so einem Bild im Kopf noch Tennis spielen? Während eines Doppels schrie einer meiner Gegner plötzlich auf, nachdem er verzweifelt versuchte, einen hohen Ball, der über den Kopf seines Partners flog, noch zu erreichen. Er begann zu humpeln, jammert etwas von 'frisch operiert', er könne sich kaum bewegen vor Schmerz und schleppte sich zur Bank neben dem Spielfeld. Ich war mir sicher, er werde aufgeben. Doch nein, er humpelt zurück, meint, es werde schon irgendwie gehen, zieht bei jedem Schritt das rechte Bein nach. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Er sah aus wie ein Krüppel, der seinen Stock verloren hatte, und verzweifelt über den Platz dem Ball hinterher hinkt.

Ältere Frauen und Männer werden bei Sport-Wettkämpfen zu Kindern, mit strahlenden Gesichtern nach einem Sieg und voller Zweifel und Ärger nach einer Niederlage. Die Aufregung des Kampfes, der Konfrontation und die Chance zu siegen ist das Salz in der dünnen Suppe des Ruhestandes.