Riccardo Muti: "Wir brauchen das richtige Maß"

Seit 50 Jahren dirigiert Riccardo Muti die Wiener Philharmoniker. Jetzt signalisierte diese singuläre Konstellation den ersten Rückkehrschritt zur großen alten Zeit: Zum Jubiläum spielte man drei Konzerte in Italien. News wurde zur Probe in den Musikverein eingeladen und sprach mit dem Maestro über die Rückkehr ins Kulturleben.

von Kultur - Riccardo Muti: "Wir brauchen das richtige Maß" © Bild: Todd Rosenberg
Riccardo Muti wurde am 28. Juli 1941 in Neapel geboren. Als 28-Jähriger übernahm er das renommierte Festival Maggio Musicale in Florenz. 1971 holte ihn Herbert von Karajan zu den Salzburger Festspielen. Von 1986 bis 2005 war er Musikdirektor an der Mailänder Scala. 2010 übernahm er das Chicago Symphony Orchestra. Seit 50 Jahren gastiert er regelmäßig bei den Wiener Philharmonikern. Mit seiner Frau Cristina Mazzavillani lebt Muti in Ravenna. Das Paar hat drei erwachsene Kinder.

Wie schmerzlich die Verluste durch den Kulturstillstand sind, war am vergangenen Freitag im Musikverein für wenige Journalisten zu erleben: Riccardo Muti probte mit den Wiener Philharmonikern Brahms' zweite Symphonie, und der leere Saal vibrierte und funkelte im Goldklang der Streicher und in der Vielfarbigkeit der Oboensoli. Das Finale: strahlend schön, ein Ausbruch purer Lebensfreude. Brahms, Schumann und Mendelssohn wären auf dem Programm von vier Konzerten im Musikverein gestanden, doch diese Art Glück ist erst wieder ab 19. Mai genehmigt. Aber in Italien lebt man schon wieder: Muti und die Philharmoniker, die schon unter schwierigsten Bedingungen das Neujahrskonzert ermöglicht haben, eröffneten nach endloser Schließung die Spielzeit in Ravenna, reisten nach Florenz weiter und feierten ihr Jubiläum schließlich an der Mailänder Scala. Zuvor nahm sich der Maestro Zeit für eines seiner raren Gespräche. Allerdings am Telefon, um die Sicherheitsmaßnahmen des Orchesters einzuhalten.

Maestro, wie geht es Ihnen in dieser bedrückenden Zeit?
Ich bin geimpft und negativ getestet. Aber es ist alles sehr dramatisch. Es gab in der Vergangenheit schon Viren, aber noch nie hat ein Virus in so kurzer Zeit Millionen Menschen getötet, die Wirtschaft geschädigt und die Menschen physisch und psychisch so getroffen. Die Menschheit hat sehr gelitten. Dieses Virus ist eine globale Katastrophe. Im Krieg konnten die Theater arbeiten, unter außerordentlichen Umständen, aber nie war das kulturelle Leben länger als ein Jahr stillgelegt. Seit Anfang vorigen Jahres, als ich mit meinem Orchester aus Chicago in Europa auf Tournee war, habe ich das Orchester nicht mehr gesehen. Ich hoffe, dass die Lage im September besser ist und wir wieder spielen können. Aber ich weiß noch immer nicht, ob das Orchester in voller Besetzung auftreten kann.

Sind denn Musiker des Chicago Symphony Orchestra erkrankt?
Niemand vom Orchester ist krank geworden. Aber wir wissen noch nicht, ob der Gouverneur in Chicago erlaubt, dass das ganze Orchester auf der Bühne ist, oder ob er stärkere Sicherheitsmaßnahmen verlangt. Ich hoffe aber, dass wir den Betrieb wieder aufnehmen können. Und jetzt muss ich den Wiener Philharmonikern ein Kompliment machen. Sie haben das Neujahrskonzert, das von 50 Millionen auf der Welt gesehen worden ist, unter schwierigen Umständen möglich gemacht. Jetzt haben das Orchester und ich dafür die Romy bekommen, und die gebührt dem Enthusiasmus dieses außergewöhnlichen Orchesters, das trotz aller Schwierigkeiten nie aufgehört hat, Kultur zu vermitteln.

»Ich muss den Wiener Philharmonikern ein Kompliment machen. Sie haben das Neujahrskonzert, das von 50 Millionen auf der Welt gesehen worden ist, unter schwierigen Umständen möglich gemacht«

Weshalb spielen Sie mit den Philharmonikern auf Ihrer Italien-Tournee Mendelssohn, Schumann und Brahms, ausschließlich Komponisten der deutschen Romantik?
Das sind drei Komponisten, die ich sehr mag, und diese Musik haben die Philharmoniker in ihrer DNA. Außerdem hätte unsere Tournee viel größer sein sollen. Leider wurden viele Konzerte abgesagt, aber die Italiener sind sehr glücklich, dass sie das hören. Und Mendelssohns "Meeresstille" verheißt gute Wünsche und erzählt von einem ruhigen Meer, damit man eine glückliche Reise in Richtung Normalität machen kann.

Sie traten immer wieder für einen Weg in die Normalität ein und appellierten in den vergangenen Monaten an die Politiker in Italien, Kultur zuzulassen. Sie waren auch selbst aktiv.
Ich habe mit meinem Jugendorchester Cherubini in Italien auch einige Konzerte gemacht, manche für Streaming, manche mit Publikum. In Palermo führte ich mit dem Orchester und dem Chor des Teatro Massimo das Verdi-Requiem auf. Das Orchester war im Parterre und der Chor auf die Logen verteilt. Ein Chorist pro Loge, das muss man sich einmal vorstellen! In normalen Zeiten wäre so etwas undenkbar. Im Teatro Regio in Turin habe ich "Così fan tutte" in der Inszenierung meiner Tochter Chiara gezeigt. Da war das Orchester im Graben. Im April war ich in Japan bei der Opern-Akademie. Da hatte ich ein exzellentes Orchester von jungen Japanern und einen Chor. Wir haben zwei konzertante Aufführungen von Verdis "Macbeth" und zwei Mozart-Symphonien aufgeführt, die "Haffner" und die "Jupiter".

Vor Livepublikum oder waren das Streamingkonzerte?
Vor Publikum. In Japan konnten wir die Konzerte mit fünfzigprozentiger Saalbelegung spielen. Wenn ein Saal 1.000 Plätze hatte, konnten wir also für 500 spielen. Aber wir hatten auch Konzerte mit bis zu 1.300 Besuchern in der Bunka Kaikan Hall. Das Publikum saß maskiert und mit Abstand. Und jetzt in Italien ist es für die Wiener Philharmoniker zum ersten Mal nach langer Zeit, dass sie auf ein Livepublikum treffen.

© ©Silvia Lelli Zurück im Konzertleben. Riccardo Muti und die Wiener Philharmoniker in der Mailänder Scala am 11. Mai

Die Philharmoniker waren eines der ersten Orchester, die ein Sicherheitskonzept entwickelt und eine Aerosolstudie durchgeführt haben. Deshalb konnten sie immer in normaler Besetzung und ohne Abstände spielen. Wie ist das jetzt in Italien?
In Ravenna gibt es auch Sicherheitsmaßnahmen. Die Musiker müssen Masken tragen, bis sie auf ihren Plätzen sitzen. Man darf aber nicht vergessen, dass die Musiker geimpft und alle getestet sind. Auch ich. Bevor ich nach Japan gereist bin, wurde ich geimpft, und ich habe unzählige Tests gemacht, zur Sicherheit jener, die spielen, aber auch zur Sicherheit des Publikums.

Was sagen Sie zu den Studien der Berliner Technischen Universität und des Fraunhofer-Instituts, die belegen, dass es in Theatern fast kein Infektionsrisiko gibt?
Dem stimme ich vollkommen zu. Diese Studien sind richtig. Theater sind die sichersten Orte, wenn das Publikum mit Abstand platziert ist und Masken trägt. Normalerweise sprechen die Leute während des Konzerts nicht miteinander. Da kann man das Virus nicht übertragen. In Japan ist niemand im Orchester krank geworden. Und kein Einziger im Publikum. Ich denke, es war nicht richtig, das Kulturleben in so vielen Ländern monatelang stillzulegen. Aber ich kann nicht für die Politiker sprechen, das ist meine persönliche Meinung. Spanien zum Beispiel hat die Theater nicht geschlossen und ist in einer guten Lage. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass so viele Länder so rigide Auflagen haben. Außer in Indien, wo die Lage sehr ernst ist, scheint das Virus auf der ganzen Welt immer schwächer zu werden. Es gibt immer weniger Kranke. Immer weniger Ansteckungen. Ich hoffe, dass wir ganz öffnen und die "Missa solemnis" in Salzburg vor voll besetztem Saal spielen können.

»Es war nicht richtig, das Kulturleben in so vielen Ländern monatelang stillzulegen«

Gibt es bei den Salzburger Festspielen schon Pläne für eine Vollbelegung der Säle?
Das ist nur meine Hoffnung. Aber bevor ich nach Salzburg komme, dirigiere ich am 19. Juni eine konzertante Aufführung von "Aida" in der Arena von Verona, zum Hundertfünfzigjahrjubiläum dieses Werks. Jetzt gibt es in Italien große Diskussionen darüber, ob 1.000 oder 6.000 kommen dürfen. Dabei bedeutet auch eine Belegung von 6.000 Plätzen eine leere Arena, denn die fasst 30.000 bis 40.000 Besucher. Wir werden sehen, was die letzten Entscheidungen bringen. Wichtig ist, dass wir wieder einen Kulturbetrieb haben können. Die jungen Menschen, und vor allem die jüngsten, haben mehr als ein Jahr echtes Leben verloren.

Sie haben keine sozialen Kontakte, keine Kultur, keine Schule, überhaupt keine Möglichkeit, zu lernen. Das ist ein wirkliches Problem für die Jungen, denn eines Tages müssen sie unser Land übernehmen. Sie selbst haben schon im Vorjahr mit dem Festival in Ravenna gezeigt, dass Kulturveranstaltungen in Pandemiezeiten möglich sind. Bei den Salzburger Festspielen und bei den Öffnungen Anfang der Spielzeit gab es dann keinen einzigen Ansteckungsfall.
Wir in Ravenna waren die Ersten, die in Europa gespielt haben. In Salzburg hatten wir bei der Neunten Beethoven ein Livepublikum. Beim Neujahrskonzert dachten wir nicht an den leeren Saal, sondern an die 50 Millionen, die uns auf der ganzen Welt verfolgten. Die Streamingkonzerte sind wichtig, denn die Wiener Philharmoniker und andere bedeutende Orchester können damit auf der ganzen Welt gesehen werden, auch in Ländern und Kontinenten wie Kanada, Australien und Südamerika. Aber es ist wichtig, dass das Publikum live im Saal anwesend ist. Wir brauchen keine Distanz, wir müssen die Reaktion des Publikums spüren, denn es ist unsere Aufgabe, durch die Kultur die Welt zu einer bessern zu machen. Wir vermitteln Schönes, Bellezza mit einem großen B und Harmonie.

Ist es für Sie nachvollziehbar, dass gegen die Maßnahmen demonstriert wird?
Jeder ist frei, seine eigene Meinung zu äußern. In Japan trifft die Regierung keine Anordnungen, sie gibt Ratschläge. Aber das japanische Volk ist sehr diszipliniert. Wenn die Regierung rät, nicht nach acht Uhr abends auszugehen, befolgt das Volk diesem Rat. Aber andere Länder, andere Sitten. Manche Völker sind weniger diszipliniert. Sie gehen hinaus und stecken sich auf den Plätzen an. Das ist aber keine Kritik an denen, die demonstrieren! In gewissen Fällen sind die Restriktionen viel zu hart, in anderen Fällen dieselben Maßnahmen zu oberflächlich. Denken wir an Fußballspiele. Wenn 30.000 auf einem Platz, zusammenkommen, ohne Maske brüllen und trinken. Das braucht andere Maßnahmen. Der große römische Dichter Horaz hat gesagt: "Est modus in rebus." Das heißt, wir brauchen das richtige Maß, eine Aurea Mediocritas, also den goldenen Mittelweg. Aber den richtigen.

»Impfen ist die einzige Möglichkeit, das Virus einzuschränken«

Es sind aber meistens Rechte, die sich gegen die Maßnahmen auflehnen und auch als Impfgegner auftreten.
In diesem Sinn habe ich das nicht verfolgt. Ich denke, wichtig ist der Respekt vor den anderen. Man muss auf intelligente Menschen hören, auf Politiker, die nicht für links, rechts oder die Mitte stehen, sondern auf jene, die frei entscheiden, richtige Maßnahmen setzen und Ratschläge geben. Es gibt immer Politiker, die von gewissen Situationen profitieren wollen, um eine falsche Politik zu machen. Da sind wir wieder bei Horaz. Er spricht nicht von der Rechten und nicht von der Linken, er spricht von der Mitte, aber nicht im politischen Sinn, sondern vom richtigen Maß der Dinge. Aber natürlich zieht in unserer Gesellschaft immer der eine auf die eine und der andere auf die andere Seite. In diesem Aufeinanderprallen von These und Antithese muss es die richtige Synthese geben.

Wir erleben gerade die österreichische Kardinaltugend des Neids. Nicht nur auf drängelnde Bürgermeister, auch auf die Philharmoniker, die von der Stadt Wien geimpft wurden.
Das passiert doch auf der ganzen Welt, auch in Italien. Da wurden Menschen geimpft und andere haben dagegen protestiert, weil die Geimpften noch nicht alt genug waren. Ich kommentiere keine österreichischen Angelegenheiten, weil ich kein Österreicher bin. Aber jetzt ist es wichtig, so schnell wie möglich alle zu impfen. Das ist die einzige Möglichkeit, dieses Virus einzuschränken. Und die Wiener Philharmoniker repräsentieren eben ein hohes Gut Österreichs. Sie sind Kulturgut, das Orchester muss reisen, als Botschafter österreichischer Kultur. Es kann doch kein ernsthaftes Problem sein, wenn man diese hundert Leute impft! In Italien werden jetzt 500.000 Impfungen pro Tag verabreicht.

In Österreich gab es im April pro Tag 49.000 Impfungen. 500.000 ist da sehr viel.
Für ein Land wie Italien schon. Aber das Impfen muss so schnell wie möglich erfolgen. Es kann nicht sein, dass viele länger in der Isolation zu Hause eingesperrt bleiben. So viele leben in kleinen Wohnungen, manche leben mit vier, fünf Kindern in nur einem Zimmer. In so einer Situation eineinhalb Jahre leben zu müssen, macht depressiv. Da kommen andere Krankheiten, nämlich psychische. Es ist schwierig, eine Lösung zu finden, die für alle gut ist, wenn ein so gewaltiges Virus die ganze Welt niedergeschlagen hat. Die Welt war darauf nicht vorbereitet. Natürlich hat man viel falsch gemacht. Aber es wäre jetzt besser, nicht auf die Irrtümer zu schauen, sondern bessere Lösungen zu finden, um zum normalen Leben zurückzufinden.

Kommen Sie dann auch wieder an die Staatsoper, wenn der Weg ins normale Leben gefunden ist?
Im Moment gibt es keine Pläne. Aber mit den Wiener Philharmonikern werde ich immer spielen, denn das ist das Orchester meines Lebens.

Das Interview erschien ursprünglich im News 19/2021.