"Fußball ist Kapitalismus"

Dosenklub? Retortenverein? Plötzlich steht Red Bull Salzburg im Viertelfinale der Europa League - und die alten Vorurteile scheinen wie gelöscht. Sportdirektor Christoph Freund, der mächtigste Mann nach Mateschitz, erklärt, warum.

von Red Bull Salzburg - "Fußball ist Kapitalismus" © Bild: News/Ricardo Herrgott

Frühlingserwachen im heimischen Fußball: Red Bull Salzburg eliminierte im Achtelfinale der Europa League mit Borussia Dortmund einen deutschen Spitzenklub, Zentralorgane des Sportpatriotismus wie die "Krone" hoben das "Wunder von Salzburg" auf die Titelseite. Und auch das Fernsehpublikum gab sich mit einem Mal betont offensiv: Nach dem Hinspiel, das die Salzburger auswärts ebenso überraschend wie souverän mit zwei zu eins gewannen, versammelte sich zum Rückspiel knapp eine Million Menschen vor den Bildschirmen.

Im Viertelfinale wartet nun Lazio Rom (Hinspiel am 5. April im Stadio Olimpico di Roma). Die Experten sprechen von einer durchaus machbaren Aufgabe, die Sportfans schwelgen plötzlich in einem neuen Wir-Gefühl: Salzburg kämpft um Österreichs chronisch blessierte Fußballehre, Österreich hält Salzburg kollektiv die Daumen, das ist der Deal. Und der ist durchaus bemerkenswert.

Denn was da international diskret als "FC Salzburg" firmiert, da auf europäischer Ebene keine Sponsoren im Vereinsnamen vorkommen dürfen, heißt in der heimischen Liga unverblümt "Red Bull Salzburg" - und entwickelte sich seit der Gründung im Jahr 2005 zum veritablen Feindbild der restlichen Vereine, vor allem aber deren Fankurven.

2005 als Nachfolgeverein der altehrwürdigen, aber insolventen Austria Salzburg -die im Jahr 1994 immerhin im Finale des Uefa-Cups stand - gegründet, entwickelte sich der Klub von Red-Bull-Eigner Dietrich Mateschitz zum Synonym für schnöden Kommerz ohne Tradition. Zu einem Klub, der durch die Verpflichtung saturierter Stars und Trainer zwar die heimische Liga dominierte, international aber weitgehend erfolglos blieb. Dosenklub oder Retortenverein hieß es despektierlich.

Doch das ist zu kurz gegriffen, viel zu kurz. Seit im Jahr 2012 der deutsche Sportdirektor Ralf Rangnick an den Ball kam, wurden keine ausrangierten Oldies mehr geholt, sondern hungrige Talente von allen Kontinenten, die alsbald gewinnbringend verkauft wurden und Millionen in die Klubkasse spülten (siehe Tabellen rechts). Im Jahr 2015, als Rangnick zu RB Leipzig wechselte, wurde zur allgemeinen Überraschung mit Christoph Freund ein damals gerade einmal 37-jähriger, leidlich begabter Ex-Kicker aus Leogang zum Sportdirektor bestellt.

Herr Freund, ohne das auch nur im Mindesten geringschätzen zu wollen: Vor zwölf Jahren waren Sie noch Tischler in Leogang, heute sind Sie einer der wichtigsten Männer im heimischen Fußball - kommt Ihnen diese Entwicklung manchmal nicht fast schon ein wenig surreal vor?
Ja, das war eine extreme Entwicklung, die so nicht vorhersehbar und planbar gewesen ist. Deswegen bin ich dem Verein auch in erster Linie dankbar. Viele haben damals, als ich kam, nicht verstanden, dass ich die Tischlereifirma meines Vaters aufgebe - aber ich bin meinem Herzen gefolgt und habe die Chance ergriffen, in dem Bereich zu arbeiten, der mir am liebsten ist. Das war ein großer Schritt und auch ein Risiko. Ich war ja ein ziemlicher Quereinsteiger, ein Mitarbeiter im Teammanagement, der in diesem Business noch nie gearbeitet hatte.

Was war Ihre prägendste berufliche Entwicklung?
Dass ich daheim unseren Tischlereibetrieb übernehmen musste, weil mein Vater plötzlich verstorben ist. Da ist für mich von einem Tag auf den anderen eine Welt zusammengebrochen - aber es hat auch eine Entwicklung ihren Anfang genommen: Damals war ich gerade Fußballspieler in der zweiten Liga bei Untersiebenbrunn, ein 24-jähriger Bursche, der im Grunde genommen noch nicht voll im Leben stand. Und plötzlich hatte ich eine Firma mit 20 Leuten zu leiten.

»In meinen Augen wurde da ganz bewusst ein Feindbild aufgebaut«
© News/Ricardo Herrgott

Was hat Sie das für das Fußball-Business gelehrt?
Dass es im Leben immer weitergeht, auch wenn es momentan schlimm sein sollte, und dass man, wenn man sich gegenseitig unterstützt, in einem guten Team fast alles erreichen kann. Und dass harte Arbeit auch belohnt wird. Diese Zeit war, wenn man so will, eine sehr entscheidende Phase.

Damals, als Sie im Verein einstiegen, war ja ein Einzug ins Europacup-Viertelfinale nicht das vorherrschende Thema. Damals war Salzburg, überspitzt formuliert, der millionenschwere "Dosenklub", der einen Traditionsverein auf dem Gewissen hat.
So wurde es außerhalb von Salzburg teilweise dargestellt. Aber hier war das Projekt von Anfang an sehr hoch angesehen, weil viele Topspieler aus anderen Ländern gekommen sind. Persönlichkeiten wie ein Giovanni Trapattoni waren Trainer, das war etwas Spannendes, Neues in Österreich. In anderen Teilen des Landes und im Umfeld anderer Vereine war das mitunter negativ behaftet, aber eines muss man schon ganz klar sagen: Ohne den Einstieg von Red Bull hätte es in Salzburg keinen Erstligaverein und keinen Profifußball mehr gegeben.

Dosenklub, Retortenverein - woher kommt diese Woge der Geringschätzung?
Das wurde schon auch aufgebauscht. Natürlich gibt es viele Vereine, die sich über Tradition definieren und seit unserem Start sogar noch viel stärker - da wurde in meinen Augen bewusst ein Feindbild aufgebaut. Natürlich war Geld da, mehr als bei anderen Vereinen, wodurch noch der Neidfaktor dazukam, der in Österreich immer ein großes Thema ist. Ich verstehe das aber alles nicht ganz, denn Geld gehört nun einmal zum Profifußball - immer verbunden mit der Frage, was man damit macht. Wie man jetzt bei uns sieht, wird extrem viel für die Entwicklung und den Nachwuchsfußball gemacht.

Ist das so, als würde in einer Siedlung der Škoda-Fahrer plötzlich in der Einfahrt des Nachbarn ein Audi parken? Entspricht das in etwa der Gemütslage der Fußballnation?
Überspitzt formuliert kann man das vielleicht so sagen. Dann wurde der Verein als reines Marketinginstrument dargestellt, wo es nicht mehr um Herz und Leidenschaft ginge. Und dann kam immer wieder der Vorwurf der fehlenden Tradition. Aber grundsätzlich ist es entscheidend, vorhandene Ressourcen bestmöglich einzusetzen. Und letztlich bleibt die Frage, wann Innovation und Neues zur Tradition werden.

Das Schlagwort vom Fußball-Kapitalismus - ist das ein Schimpfwort einer alten Funktionärskaste, die im Grunde genommen keine Ahnung von Wirtschaft hat?
Im Grunde genommen ist ein Profifußballklub ein Wirtschaftsunternehmen und Fußball Kapitalismus - so ehrlich muss man irgendwann schon sein.

»Der Neidfaktor ist hier immer ein großes Thema«

Guter Fußball ohne großes Geld ist also sentimentaler Irrglaube?
Auf professioneller Ebene ist das nicht umsetzbar, auf europäischer Ebene schauen alle Vereine, wie sie sich noch besser vermarkten und neue Geldquellen lukrieren können, das ist Fakt. Das ist ein riesiges Business geworden. Letztendlich wird ja auch die Tradition eines Klubs als Emotion vermarktet. Unser letzter Gegner Dortmund ist zum Beispiel ein börsennotiertes Unternehmen.

Stichwort Dortmund: In praktisch allen deutschen Medien wurde beschrieben, wie grottenschlecht der BVB gespielt hat. Nirgendwo steht, wie gut die Salzburger waren. Schmerzt das?
Es tut nicht weh, aber ich finde es einfach nicht korrekt. Das ist kein richtig guter Zugang, denn wenn man unsere Dortmund- Spiele gesehen hat, weiß man, dass wir die Besseren waren und verdient aufgestiegen sind gegen einen Gegner, der in der deutschen Bundesliga seit Wochen ungeschlagen ist. Aber in Deutschland wird eher die eigene Mannschaft schlechtgemacht, anstatt anzuerkennen, dass da in einem kleinen Fußballland wie Österreich richtig gute Arbeit geleistet wird. Den Sinn dahinter verstehe ich nicht. Wir haben zuvor Marseille geschlagen, dann Real Sociedad, das waren keine Eintagsfliegen.

Dennoch scheinen Sie unter permanentem Rechtfertigungsdruck zu stehen.
Wir haben einen Plan, und den erklären wir. Ich glaube, die Arbeit in unserem Klub spricht für sich - sowohl sportlich als auch wirtschaftlich. Wir sind stolz auf das, was wir hier in Salzburg machen.

Als der Vorgängerverein, Austria Salzburg, 1994 im Europacup-Finale stand, kamen die Spieler aus dem Pinzgau, dem Pongau und dem Lungau. Heute kommen sie aus Mali, aus Brasilien, aus dem Kosovo - tun sich deswegen so viele Fußballfans schwer mit der Identifikation?
Das war eine ganz andere Zeit. Acht Salzburger in einer Startelf im Europacup-Finale, das wird es nie mehr geben. Wir sind stolz, Spieler aus 13 Nationen bei uns zu haben. Aber auch jetzt ist es unser Ziel, die besten Österreicher bei uns zu haben. Im derzeitigen A-Nationalteam stehen fünf Spieler, die in unserer Akademie ausgebildet wurden, dazu noch zwei weitere auf Abruf.

Die besten Österreicher sollen in Salzburg spielen: Ist das vielleicht ein Erklärungsansatz dafür, dass viele bei Red Bull noch immer Schaum vor dem Mund bekommen?
Natürlich sind wir ein großer Konkurrent. Und wir bekommen sehr viele gute Spieler, weil wir ihnen sehr viel bieten können. Und da geht es definitiv nicht nur um Geld.

Sondern? Wie überzeugen Sie ein Talent, das sich die Vereine aussuchen könnte, zu Ihnen zu kommen?
Wir sind nicht so groß wie die Spitzenteams der Topligen, die viele Spieler einfach "einsammeln", um sie vom Markt zu holen. In die Kampfmannschaften schaffen es dann gerade einmal die zwei, drei Besten. Wir in Salzburg schaffen ein familiäres Umfeld und sorgen für Integration auch außerhalb des Stadions, deswegen haben es bei uns auch viele junge Spieler aus Afrika, Südamerika und ganz Europa geschafft, bereits in sehr jungen Jahren wirklich gut zu spielen. Und, ganz wichtig: Wir geben ihnen die Möglichkeit, bereits mit 17 oder 18 Jahren Profifußball gegen gestandene Männer zu spielen: Gegen Gleichaltrige zu spielen oder gegen ältere, athletischere Profis - das macht einen Riesenunterschied für die Entwicklung. Studien belegen: Bei den Topvereinen in der Champions League haben 70 bis 80 Prozent der Stammspieler bereits ganz jung Profifußball gegen Erwachsene gespielt -und genau dafür bieten wir eine perfekte Plattform.

Sie haben so viele überdurchschnittliche Spieler, dass in sieben von zehn österreichischen Erstligamannschaften Leihspieler aus Salzburg auflaufen. Verzerrt das nicht den Wettbewerb?
Nein, das hebt das Niveau der Liga und ist ein guter Schritt, ein Zwischenschritt, für unsere jungen Spieler, die es nicht sofort in die erste Mannschaft schaffen.

Wenn man von Salzburg so einfach gute Spieler bekommt, weshalb sollen sich die anderen Vereine noch Nachwuchsarbeit leisten?
Na ja, sich nur auf Salzburger Spieler zu verlassen, wäre zu wenig, und das wissen auch alle. Ohnehin leisten auch etliche andere Klubs in Österreich sehr gute Nachwuchsarbeit.

Was läuft denn im österreichischen Fußball falsch?
So viel läuft ja nicht schief, anders war es sicher in der Vergangenheit. Bis hinauf in die Neunziger gab es in den Vereinen andere Strukturen, es gab Präsidenten, die das neben ihren eigenen Firmen ohne professionelles Management machten, ohne Geschäftsführer, ohne Spezialbereiche. Das war alles viel hemdsärmeliger - und trotzdem sind die Kosten gestiegen und gestiegen, darum ist in Österreich fast jeder Verein schon einmal in existenziellen Schwierigkeiten gewesen. Da befinden wir uns bei den Klubs mittlerweile auf einer ganz anderen Ebene.

»Geht es gegen Deutsche, ist Österreich schneller vereint, als man glaubt«
© News/Ricardo Herrgott

Was passiert da jetzt gerade? Bisher waren Sie der schnöde Dosenklub, jetzt heißt es auf einmal: "Wir" haben die Deutschen rausgekickt. Wie erklären Sie sich diesen Stimmungswandel? Ist das eine Art Córdoba-Effekt?
Vielleicht. Wenn es gegen große deutsche Mannschaften geht, ist das kleine Österreich schneller vereint, als man glaubt. Zudem sind wir nicht wie in der heimischen Liga der Dauerfavorit, sondern der Underdog, das ist für die Fans ein anderer Zugang. Da ist eine Euphorie entstanden, die vorher so nicht da war, ein neues Wir-Gefühl. Aber Vorsicht: Von zu Tode betrübt zu himmelhoch jauchzend und retour - das geht in Österreich sehr, sehr schnell.

Das heißt, Sie befinden sich derzeit in einer absolut entscheidenden Phase für das langfristige Standing des Klubs?
Natürlich wollen wir die Skeptiker jetzt mit Emotion packen. Es geht uns jetzt aber nicht nur um das Viertelfinale, es geht uns darum, dass die Leute grundsätzlich verstehen, was wir hier machen. Es geht darum, zu zeigen: Wir können mit den Großen mitspielen, auch wenn wir in den letzten Jahren immer wieder sehr wichtigen Spielern die Möglichkeit zur Weiterentwicklung bei größeren Vereinen gegeben haben und dafür junge nachrücken ließen.

Aber anscheinend überfordert das die Zuschauer. Zu Liga-Spielen kommen kaum mehr als 7.000 ins Stadion.
Ich versuche, das Publikum ein wenig zu verstehen: In der Startphase von Red Bull Salzburg hat man einen Niko Kovač, einen Thomas Linke, einen Alexander Zickler jenseits der 30 geholt. Die hatten, als sie kamen, alle bereits einen Riesennamen und schon die Champions League gewonnen. Sie haben bei uns ihren vorletzten oder letzten Vertrag unterschrieben, jene, die heute kommen, unterschreiben ihren ersten oder zweiten. Früher hatten wir eine ganz andere Ausrichtung.

Und als Ihr Vorgänger Ralf Rangnick 2012 Sportdirektor wurde, erfolgte eine Art Paradigmenwechsel?
Früher holte man Star-Trainer wie Trapattoni, Stevens oder Adriaanse und noch dazu jene sieben, acht Spieler, denen diese Trainerpersönlichkeiten vertrauten. Damals hat sich der Verein nach den Trainern ausgerichtet, heute sucht der Verein den Trainer aus, der zu unserer Philosophie passt. Und die lautet: Wir suchen großteils Spieler, die bei uns den nächsten Schritt machen können.

Was war denn die Idee hinter dem Ursprungskonzept, das, Sie verzeihen, immer wieder an Frank Stronachs Sprunghaftigkeit bei der Wiener Austria erinnert?
Die Idee und das Ziel war, dass man so schnell wie möglich in die Champions League kommt und erfolgreich Fußball spielt - wobei der kurzfristige Tageserfolg ganz klar im Vordergrund stand. Damals war die Ausrichtung kurzfristiger, heute ist sie nachhaltiger. Solange keine richtige Strategie dahintersteckt, sind die Erfolge limitiert. Und aus dieser Erfahrung haben wir gelernt.

Heute sind Sie ein Wirtschaftsbetrieb, früher war es Geldvernichtung?
Damals hat man teure Spieler geholt und nur in Ausnahmefällen Transfererlöse erzielt, das hat sich grundlegend geändert.

Aber hat diese "Was-kostet-die-Welt-Attitüde" nicht erst das fragwürdige Image von Red Bull Salzburg zementiert?
Damals hatte der Verein sicher ein anderes Image. Deshalb war es für die zahlenden Zuschauer nicht so einfach, zu verstehen, dass jetzt etwas ganz anderes passiert und die Entwicklung von Spielern eine wichtige Säule unserer Strategie darstellt - da haben die Fans emotional schon einiges mitgemacht. Und dafür werden sie jetzt belohnt.

Zu stark für die Liga, zu schwach für die Champions League - Sie sind zehnmal an der Qualifikation gescheitert. Das hat doch irgendwie etwas Tragisches?
Da waren auch ganz bittere Enttäuschungen dabei, aber aus sportlicher Sicht sage ich: Für unsere Entwicklung ist die Europa League perfekt - das ist unser Bewerb.

Christoph Freund
1977 geboren, absolvierte Freund eine Tischlehrlehre. Bis 1997 kickte er in der Amateurmannschaft von Austria Salzburg, dann in der zweiten Liga bei Wattens und Untersiebenbrunn. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters übernahm er dessen Tischlerei in Leogang, die er 2006 verkaufte, um in das Management von Red Bull Salzburg einzusteigen.

Dieser Artikel ist der Printausgabe von News Nr. 12/2018 erschienen.