Niki Popper über die Kraft der Zahlen

Als Corona-Experte ist Niki Popper mittlerweile sehr vielen Menschen in Österreich bekannt. Der Simulationsexperte kann mit mathematischen Modellen aber auch erklären, wie der Zugsverkehr in Österreich besser laufen könnte, was passiert, wenn ein Spital zusperrt, oder - warum Mathematik wie eine Sprache ist

von Niki Popper über die Kraft der Zahlen © Bild: Copyright 2022 Matt Observe - all rights reserved.

Der Ort, an dem seit mehr als zwei Jahren der mögliche, der zu erwartende Verlauf der Coronapandemie modelliert wird, sieht von außen nicht unbedingt nach einer wissenschaftlichen Forschungsstätte aus. "Drahtwarenhandlung" steht über der Tür. Handwerksbedarf gibt es hier allerdings schon länger nicht zu kaufen. Nach und nach treten an diesem Freitagmorgen Mathematiker und Datenspezialistinnen ein. In den hinteren Räumen des ehemaligen Geschäfts stehen die Computer für die rund 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Vorne stehen Tische, es sieht hier nicht nur wie in einem lässigen Lokal aus, es ist abends auch eines. Die Espressomaschine läuft sich warm. Und Niki Popper, einer der Erfinder der Drahtwarenhandlung, redet sich warm.

Es geht ausnahmsweise nicht nur um Corona. Es geht um sein erstes Buch "Ich simuliere nur". Und darin geht es darum, was Popper und sein Team machen und schon lange machten, bevor Covid kam. Sie simulieren Prozesse und Situationen - das Tätigkeitsfeld dabei reicht von Verkehrsplanung über Gebäudenutzung bis hin zur Wirksamkeit medizinischer Therapien - und geben damit Politikern und Managern Grundlagen für ihre Entscheidungen. Die Drahtwarenhandlung ist Forschungsstätte und Unternehmen in einem. Das Modell, das die Drahtwarenhandlung dafür angelegt hat, ist ein nachgebautes, digitales Österreich, in dem sich anonymisiert alle rund neun Millionen Menschen befinden, die hier leben. Man kann damit zum Beispiel simulieren, wie sich ein Virus, je nach Mutation, verbreitet. Was passiert, wenn man Menschen impft und in welcher Reihenfolge das sinnvoll ist. Man kann Szenarien ablaufen lassen: Was passiert, wenn das Land im Lockdown ist? Ergänzt man diese Daten mit ebenfalls anonymisierten Mobilitätsdaten von Mobilfunkbetreibern, sieht man, ob sich die Menschen noch an Beschränkungen halten und wie sich das auf Ansteckungszahlen auswirkt. Weil Popper und sein Team schon seit Jahren Erfahrung im Umgang mit diesen Daten haben, konnten sie Anfang 2020 auch binnen weniger Tage in die "Berechnung" der Pandemie und die Beratung der Politik einsteigen.

»Im Computer kann man die Resilienz von Systemen testen und herausfinden, welche Potenziale es gibt«

Mit Bevölkerungs- und Gesundheitsdaten kann man auch andere Entscheidungen erleichtern. Ein paar Beispiele: "Wir können testen, was abläuft, wenn man irgendwo in Österreich ein Krankenhaus aus dem Gesundheitssystem herausnimmt, weil es zugesperrt oder umgebaut wird", erklärt Popper. "Wir schauen nach, wie ist die medizinische Versorgung in der Region, wie viele Ärzte gibt es und wo, wie ist die Bevölkerungsstruktur und wie wahrscheinlich ist es, dass bestimmte Erkrankungen auftreten. Dann sehe ich sofort, was passiert, wenn dort ein Krankenhaus fehlt."

Brauchen wir das wirklich?

Was in der Drahtwarenhandlung ebenfalls simuliert wird: Wie der Bahnverkehr in Österreich funktioniert oder besser funktionieren könnte. Popper: "Es gibt ein Schienennetz, das wird von verschiedenen Unternehmen benützt, es werden Menschen und Güter transportiert. Ein irrsinnig kompliziertes System. Das bauen wir im Computer nach." Mit dieser Simulation kann man dann z. B. nicht nur den aktuellen ÖBB-Fahrplan laufen lassen, sondern auch einen neuen ausprobieren. Man kann testen, was passiert, wenn ein Bahnknoten ausfällt, ohne dass der echte Betrieb in Turbulenzen gerät. "Im Computer kann man die Resilienz von Systemen sehr gut testen und herausfinden, welche Potenziale es gibt."

Ein drittes Beispiel: Raumnutzung. Brauche ich für mein Unternehmen oder eine neue Universität einen riesigen Neubau oder geht es auch mit weniger Quadratmetern, was in weiterer Folge heißt, weniger Energieverbrauch, weniger verbaute Fläche, geringere Baukosten? Im kleinen Maßstab erklärt Popper das an der Drahtwarenhandlung: "Der Raum, in dem wir sitzen, ist jetzt ein Besprechungsraum, zu Mittag ist es der Mitarbeiter-Sozialraum, am Abend ist es ein Lokal oder es gibt hier Vorträge. Wenn andere Leute ein Gebäude ansehen, sehen sie ein Haus. Wenn wir ein Gebäude ansehen, sehen wir Raum-Zeit-Fenster, die ich befüllen und koordinieren kann." Im Buch beschreibt Popper eine Kooperation mit der WU Wien, wo man die Sorge hatte, dass der neu errichtete Campus nicht reichen könnte: Also wurde simuliert, wer welche Raumgröße braucht und wie man die Hörsäle - vom Audimax bis zum kleinsten Seminarraum - sinnvoll verteilt. Es ging sich aus.

Sowohl bei Gebäuden als auch bei Schienen oder Straßen geht es am Ende auch ums Sparen - an Geld, an Boden, an Ressourcen, ein wichtiges Thema in Zeiten des Klimawandels. "Die Infrastruktur immer weiter auszubauen oder immer mehr Zuggarnituren zu kaufen, kostet sehr viel Geld und schadet der Umwelt. Wenn ich Prozesse schlauer baue, verbessern wir die Nutzung." Aber: "Wir ersparen uns nicht alle Investitionen, wir ersparen uns auch nicht, dass wir Dinge ändern müssen, wenn wir den Klimawandel stoppen wollen." Bevor das jetzt zu einfach klingt: "Das ist nicht trivial. Das ist eine Challenge." Denn, wenn der Computer fertig ist, "kommt ja am Ende nicht die Zahl 42 heraus. Sondern es gibt Tausende Outcomes und wir müssen einen Algorithmus finden, der eine möglichst gute Lösung für etwas findet, wo wir oft gar nicht klar definieren können, wo wir hinwollen." Kurzes Innehalten: "Ich find meine Arbeit super. Sie Ihre auch?"

Die Unbekannte: Mensch

Wo Menschen agieren, geht es nicht immer logisch zu. Emotionen, Sturheit, Eitelkeiten halten sich nicht an Ergebnisse von Algorithmen und künstlicher Intelligenz. Wie bringt man den "Störfaktor Mensch" ins System? Popper erklärt, es gebe verschiedene Forschungsbereiche, die sich mit dem Verhalten der Menschen beschäftigen. Ein Fachbegriff lautet "Adhärenz". Im medizinischen Bereich beschreibt man damit die Bereitschaft von Patienten, eine Therapie mitzumachen und nicht - wenn der Schmerz nachlässt - die Tabletten zu vergessen.

In der Pandemie konnte man mit Mobilitätsdaten feststellen, wie sehr sich die Menschen noch an verordnete Lockdowns gehalten haben. Auch das ist Adhärenz. Wichtige Anmerkung: "Wir können feststellen, dass diese Adhärenz gesunken ist, aber wir bewerten das nicht. Nicht mein Job! Ich darf, wenn ich ein Modell zur Auswertung und Prognose laufen lasse, das nicht mit meiner persönlichen Meinung vermischen, ob es gerechtfertigt war, alles zuzusperren, oder ob die Leute böse sind, die sich nicht daran halten." Während man mit Modellen den Bedarf an Schienen, Zuggarnituren, Gebäuden, Krankenhäusern errechnen kann, bleibt der Faktor Mensch ein kompliziertes Thema. "Damit muss man sehr verantwortungsvoll umgehen. Ich bin aber, im Gegensatz zu anderen, nicht der Meinung, dass das Modellrechnungen unmöglich macht."

© Copyright 2022 Matt Observe - all rights reserved. MUSIK UND DATEN. Niki Popper ist Jazzfan, spielt selbst Klarinette und Saxofon und hat eine Erklärung dafür, warum sich viele mit der Mathematik schwertun: "Sie ist wie ein Musikinstrument. Du musst sehr lange üben. Und manchmal ist es urfad, aber irgendwann weißt du, was passiert"

Kann man Vorurteile ausschalten?

Der Faktor Mensch spielt auch am Beginn eines Modells, das Forscher modellieren mit: Denn bei den Annahmen, die da getroffen werden, fließen naturgemäß Lebensumstände, Erfahrungen, ja, auch Vorurteile ein. "Um die eigene Voreingenommenheit auszuschalten, sollte man möglichst große Diversität im Team haben", erklärt Popper. "Wir bemühen uns, sind aber weit entfernt von ausreichend. Dass dicke, alte, weiße, mittelalterliche Männer alleine ein Modell bauen, ist blöd, manchmal ist es noch so. Wir lösen das Problem dadurch, dass immer mehrere Menschen an einem Modell arbeiten und immer wieder auch andere Menschen darauf schauen - und dann auch einmal sagen, das ist völliger Unsinn, was ihr da macht." Aber eigentlich, sagt Popper, bräuchte es standardisierte Prozesse, wie man Inputs von Tausenden Leuten einarbeiten kann. Ein neues, spannendes Forschungsgebiet.

Wo der Faktor Mensch allerdings überhaupt nichts verloren hat, so Popper, ist, wenn Forscher ihre Ergebnisse selbst interpretieren. "Ich poche darauf, und das ist jetzt der nicht lustige Niki: In Covid-Modellen, zum Beispiel, haben Emotionen oder Voreingenommenheit von Experten nichts verloren. Ich finde es unerträglich, wenn Forschende versuchen, irgendwelche Meinungen zu transportieren, die nicht evidenzbasiert oder deren Annahmen zumindest reproduzierbar sind."

»In Covid-Modellen haben Emotionen oder Voreingenommenheit von Experten nichts verloren«

Die Folge davon erlebt auch er in den sozialen Medien: "Da heißt es dann, der Popper modelliert die Kurve so, weil ihm das der Minister so angeschafft hat oder weil er das so möchte. Nein. Wir modellieren Effekte. Das ist wichtig. Da bin ich Fanatiker. Da ist wirklich Schluss mit lustig. Man muss abbilden, was Sache ist, und nicht, was ich gerne hätte. Das halte ich im Moment für eine extreme Gefahr." Wissenschaft heißt Transparenz. An welchem Modell auch immer Experten arbeiten, es muss nachvollziehbar sein, was die Grundannahmen sind, die Ergebnisse müssen nachvollziehbar und reproduzierbar sein. Erst ganz am Schluss kann man seine Ergebnisse interpretieren. Der Musiker Popper vergleicht das mit Üben und Improvisieren. Bevor man Zweiteres kann, muss man seine Tonleitern und Fingerübungen hinter sich gebracht haben.

Kein "Wünsch dir was"

In den mehr als zwei Jahren Coronapandemie hatte es Popper mit drei Bundeskanzlern und drei Gesundheitsministern zu tun. Er war als Covid-Erklärer in den Medien, nahm an Pressegesprächen teil, verweigerte manchmal auch, saß in einigen der immer mehr werdenden Expertenräte für die Politik. Gab es Druck, Dinge zu sagen oder in einer bestimmten Weise darzustellen?" Die Politik muss sich nicht immer freuen, wenn ich etwas sage, aber das ist Gott sei Dank auch nicht das Ziel."

Natürlich arbeite er mit dem Gesundheitsministerium zusammen, schon aus dem einfachen Grund, dass dieses Daten habe, die er für seine Modelle brauche. "Natürlich finanzieren Ministerien - und damit wir alle - auch Forschung, sei es direkt über Forschungsaufträge oder über die Universitäten. Wie könnten wir sonst all die Menschen hier bezahlen? Aber, wichtig ist, Aufgabenstellung und Finanzierung transparent zu machen, um etwa auch für den Rechnungshof nachprüfbar zu machen, was wir mit diesem Geld machen. Wir versuchen, das laufend auf unserer Webseite zu tun." Schon früher gab es Aufträge aus dem Gesundheitsministerium, etwa zum Thema Masernimpfungen in Österreich. Ergebnisse solcher Projekte werden unter Einhaltung des Datenschutzes publiziert.

Natürlich gebe es manchmal Fragen, wie "Könnt ihr euch das auch anschauen?" oder "Könnte man dieses oder jenes in den Vordergrund stellen?", sagt Popper. "Und man muss natürlich aufpassen, dass man nicht quasi in vorauseilendem Gehorsam Dinge tut oder sich fragt: Kann ich das so sagen? Was ist die Message an die Entscheidungsträger, was ist die an die Öffentlichkeit? Die Antwort ist: Natürlich gibt es für beide die gleiche Botschaft." Und: "Wenn mich Politikerinnen und Politiker aus anderen Parteien anrufen, bekommen sie die gleichen Informationen."

Was die Politik mit den Ergebnissen der Experten macht, steht auf einem anderen Blatt: "Du schickst ihnen die Ergebnisse und dann liest du nach und da steht dann manchmal nur der zweite Halbsatz vom dritten Punkt und der erste Halbsatz vom zehnten und dazwischen fehlt sehr viel. So ist das Ergebnis verfälscht. Da muss man dann nachtelefonieren und sagen: Nein. Aber der Schaden ist da oft schon passiert." Aber in manchen Bereichen hat sich dieser Prozess schon verbessert. Was die Experten aus den Krisenjahren gelernt haben: "Es muss transparent sein, wer sitzt in den Beratungsgremien, was wurde dort gefragt, was waren die Antworten. Das gehört verpflichtend veröffentlicht."

Die Liebe zur Mathematik

Er habe Mathematik studiert, um die Welt zu verstehen, schreibt Popper im Buch. Doch "verstehen" kommt vielen Menschen nicht in den Sinn, wenn es um die Mathematik geht. Warum macht es uns diese Disziplin so schwer, sie zu lieben? "Sie ist wie ein Musikinstrument", sagt er, "du musst sehr, sehr lange lernen und üben. Manchmal ist es urfad, aber irgendwann weißt du, was passiert. Warum macht unsere Arbeit Spaß? Manche junge Menschen drücken sich durch Musik aus, oder durch Gedichte. Durch die Mathematik kann man Dinge beschreiben, wie mit Sprache - nur eben anders."

Buch

Wie kann Niki Popper eigentlich errechnen, wie es mit Corona weitergeht? In seinem Buch "Ich simuliere nur" * (Amalthea, € 26) erklärt er gemeinsam mit Ursel Nendzig, was Simulationsforscher tun und abseits von Corona können

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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 25+26/2022 erschienen.