Der alte Mann und das Mehr

Eine Erinnerung an Hugo Portisch und die Live-Leistung von Paul Lendvai gemahnen daran, dass der ORF vor der größten Pensionswelle seiner Geschichte steht. Die Chance zur Selbsterneuerung birgt das Risiko des Qualitätsverlusts

von Medien & Menschen - Der alte Mann und das Mehr © Bild: Gleissfoto

Alle Folgen von "Österreich I" und "Österreich II", 24 Etappen Zeitgeschichte in 37 Stunden: Dadurch geriet das letzte Oktoberwochenende auf 3sat zum unausgesprochenen Gedenken an Hugo Portisch (1. April 2021), quicklebendig unterbrochen vom 92-jährigen Paul Lendvai. Der moderierte live auf ORF 2 ein "Europastudio", nannte einige führende Politiker vom Balkan ohne Scheu korrupt und sagte am Reformationstag um zwölf vor zwölf in aller Gelassenheit: "Es wird sich immer klarer herausstellen, dass die Bestellung von van der Leyen eine katastrophalische Fehlentscheidung war."

Vor allem unter Andersdenkenden wird sich der eine am falschen "van" für die Präsidentin der EU-Kommission so stören wie der andere am "isch" zu viel für die Einschätzung ihrer Wahl. Doch die Schärfe von Lendvais Urteil bleibt vorbildlich. Der agile Greis verkörpert die Gegenthese zum Irrtum, ORF-Journalisten sollten ihre Meinung nicht äußern. Wie Portisch liefert er exakte Analysen und scheut dann nicht die Moral von der Geschicht. Das ist letztlich ein Kommentar -auch wenn er anders etikettiert wird. Egal, ob Zustimmung oder Widerspruch: Es hilft dem Publikum bei der Urteilsfindung.

Zur Einordnung des "Europastudios" abseits seiner inhaltlichen Qualität sind Vergleiche hilfreich. Vor Sonntagmittag hatte es nur 82.000 Seher und elf Prozent Marktanteil. Ein Minderheitenangebot. Doch der klischeehaft mehrheitsfähigere "Sport am Sonntag" am erstmals schon dunklen Vorabend ab 18 Uhr erreichte auch bloß 84.000 Zuschauer und vier Prozent Marktanteil. Sogar Fußball hatte eine kaum bessere Quote. Keine einzige Sendung von ORF 1 am 31. Oktober kam auf ein Zehntel des jeweiligen Fernsehpublikums. Das vermeintliche Aschenputtel "Europastudio" war zugkräftiger.

Abgesehen von diesem Wink mit dem Zaunpfahl Richtung mehr öffentlich-rechtliche Denke ist Lendvai eine Mahnung, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, wenn dem ORF nun die größte Pensionswelle seiner Geschichte bevorsteht. Jeder fünfte der rund 3.000 Mitarbeiter geht demnächst in Ruhestand. Die meisten werden diesen Schritt gern vollziehen. Doch einige würden wohl lieber weiterarbeiten. Laut "Standard", der Noch-Generaldirektor Alexander Wrabetz zitiert, sind aktuell aber nicht einmal 100 ORF-Mitarbeiter unter 30 Jahre alt. Die Nachwuchspflege wurde extrem vernachlässigt. Der grüne ORF-Stiftungsrat Lothar Lockl fordert deshalb, 300 bis 500 junge Journalisten an das Haus zu binden und mit ihnen neue Jobbilder für multimediales Arbeiten zu entwickeln.

Dieser Generationswechsel ist für den ORF so wichtig wie ein neuer gesetzlicher Rahmen, der den digitalen Spielraum zeitgemäß definiert. Doch die interne Operation Jungbrunnen klingt einfacher, als sie sich extern bewältigen lässt. Denn das Publikum des ORF, ausgenommen für Ö3 und FM4, ist größtenteils im Alter 60 plus. Es hängt an Generationskollegen -ungeachtet des Schwiegersohn/-tochter-Appeals von Martin Thür (39) und Tobias Pötzelsberger (38), Simone Stribl (34) und Margit Laufer (31). An der glanzvollen Oberfläche der Info-Moderation dürfte sich ohnehin nicht so schnell etwas ändern, wie die Altersstruktur des ORF sich wandeln muss: Mit Armin Wolf (55), Tarek Leitner (49), Susanne Höggerl (49), Lou Lorenz (47) Nadja Bernhard (46) und Lisa Gadenstätter (43) besetzen die schönsten Plätze in der TV-Sonne durchwegs Journalistinnen, die noch ein bis zwei Jahrzehnte regulär im Arbeitsleben stehen. Für die Neuen heißt das dann noch sehr lange "Bitte warten". So wie es für ein paar Alte auch in zehn bis 15 Jahren lauten wird: "Bitte bleiben!"

Paul Lendvai hat 1980 erstmals das "Ost-Studio" moderiert, aus dem EU-Beitritts-bedingt 1990 das "Europastudio" geworden ist. In seiner Logik könnte es noch 2058 eine "ZIB 2"-Doppelconférence mit Armin Wolf und dem um ein Jahr jüngeren Peter Filzmaier geben. Beide wirken beständiger als TikTok.