Wenn aus Kunstliedern großes Kino wird

Anna Netrebko sang für die Metropolitan Opera in der Spanischen Hofreitschule in Wien – ein musikalisches Online-Ereignis

von
THEMEN:
Netrebko Hofreitschule © Bild: Jürgen Hausmann/MET Opera

Gleißendes Licht erhellt die imperiale Reithalle. Das Dach des Torbogens, den sonst noble Lipizzaner durchschreiten, ist zur Bühne umfunktioniert. Anna Netrebko hat die Spanische Hofreitschule in Wien für ihren Solo-Abend mit dem Titel „Day and Night“ für die seit März vorigen Jahres stillstehende Metropolitan Opera gewählt. Nach Ausbruch der Pandemie wurde in New York der Kulturbetrieb eingestellt. Seit elf Monaten erklingt in einem der bedeutendsten Opernhäuser der Welt kein Ton mehr. Chor und Orchester wurden freigestellt. Mit Vorstellungen aus dem Archiv, die auf der Homepage abrufbar sind, erinnert die Met an bessere Zeiten. Als klar war, dass der Betrieb in der Saison 2020/21 nicht aufgenommen werden kann, initiierte Intendant Peter Gelb die Online-Konzertreihe „Met Stars live in Concert“ mit den Größten seines Hauses. Meist Lieder- oder Arienabende streamen die Besten aus verschiedenen Orten der Welt. Die Met überträgt live. Ein Online-Ticket kostet 20 Dollar (17 Euro). Die Konzerte können 14 Tage lang aufgerufen werden.

Der Perfektionismus, der die HD-Opernübertragungen der Met im Kino und im Stream auszeichnet, lässt auch bei diesen Konzerten aufmerken. Regisseur Gary Halverson setzte La Netrebko cineastisch in der Winterreithalle in Szene. Fahles, zartes Licht markierte den ersten, mit „Tag“ überschriebenen Teil, ein zartes Blau stand für „Nacht“ nach der Pause. Als Netrebko mit Rachmaninoffs „Flieder“ den Auftakt gab, war schon nach wenigen Augenblicken vergessen, weshalb dieses Konzert nur auf diese Weise stattfinden konnte. Da war eine große, eine wahrhaftige Künstlerin, die sich ihrem Gesang hingab. Egal, ob sie bei Tschaikowsky ganz in ihrem Element schwelgte, ob sie Geborgenheit und Sehnsucht aus Dvoraks Liedkunst erleben oder die kühle Transparenz von Debussy zum Leuchten brachte, wurden große Emotionen auch im Stream spürbar. Pianist Pavel Nebolsin war Netrebko ein einfühlsamer Begleiter. Makellos wechselte sie mit den Sprachen – sie sang Russisch, Deutsch, Französisch und Italienisch - die Klangfarben ihrer Stimme. Da fehlte nichts: die Brillanz bei den hohen Tönen, die Wärme bei den lyrischen Passagen, Ausdruck und Innigkeit. Phänomenal schön und wortdeutlich interpretierte sie die Lieder von Richard Strauss. Große Strauss-Partien kündigen sich da an.

Ihre russische Kollegin, die Mezzo-Sopranistin Elena Maximova, lud Netrebko zum Duett bei Offenbachs „Barcarole“ ein und ließ karnevaleskes Flair aufkommen. Was Anna Netrebko aber mit diesem Rezital gezeigt hat, ist, dass wahre Kunst unter allen Umständen stattfinden kann. Dieses Video-Dokument sollte die Met unbedingt aufbewahren und in sein Streaming-Programm aufnehmen, auch, wenn längst wieder live gespielt wird.