"Meine Hosenträger
sind unsterblich"

Zwei Monate vor seinem 90. Geburtstag veröffentlicht Martin Walser ein sprachmächtiges Buch mit dem rätselhaften Titel "Statt etwas oder Der letzte Rank". Ein Gespräch über Sterben, Unsterblichkeit und die Aussichten für die Welt

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Literatur - "Meine Hosenträger
sind unsterblich"

Herr Walser, Ihr Buch scheint mir von Lebensgier, Todesangst und Todessehnsucht zu handeln. Stimmen Sie mir da zu?
Für die Wirkung meines Buches auf Sie bin ich nur indirekt verantwortlich. Ich sage immer: "Jeder liest sein Buch, nicht mein Buch." Aber sagen wir: Alle diese Sehnsüchte sind schon drin. Ich will sie los sein, und darum habe ich das Buch geschrieben. Es ist die Reaktion auf das Leben, wie es ist.

Wie ist denn das Leben?
Ohne Schreiben unerträglich.

Schreiben Sie deshalb ununterbrochen?
Ich lebe ja auch ununterbrochen, also muss ich ununterbrochen schreiben. Und wenn ein Buch fertig ist, kommt vorübergehend die Einbildung, man dürfe sich entspannt fühlen, aber dann fängt gleich wieder die Lebenswirklichkeit an, die andauernd irgendeine Provokation enthält, gegen die man nichts machen kann, außer, dass man schreibt. Das Leben selber ist wortlos, sprachlos, aber wir reagieren mit Sprache auf die pure Lebenszumutung.

Weshalb haben Sie in dem Buch denn die literarische Form aufgelöst? Ihr Held hat keinen Namen, es wird keine Geschichte erzählt.
Ich hatte keine Lust mehr auf Belletristik, also habe ich mich gehen lassen, und es kam ein Sprachspiel heraus. Es ist eine Art Selbstbefreiung: Ein Mensch sieht sich besetzt von Theorien, Zumutungen, Wörtern aller Art, und er merkt, dass er nie dazu gekommen ist, da zu sein. Er ist nie dazu gekommen, er selber zu sein, er war abhängig von dem, was die Welt aus ihm gemacht hat. Dass so einer am Schluss sagen kann: "Ich bin, also bin ich" - das nenne ich ein Happy End.

Sie haben ein Stück mit dem Titel "In Goethes Hand" geschrieben. Nehmen Sie es als Kompliment, wenn ich feststelle, dass Sie selbst dem alten Goethe zusehends ähnlicher werden?
Ich merke davon nichts.

Anders gefragt: Wie wichtig ist Ihnen denn die sogenannte Unsterblichkeit? Goethe sagte, es gibt nur ein Leben nach dem Tod, das man sich durch die große, bleibende Tat erwirbt.
So eine Frage habe ich schon einmal in einem Roman auftauchen lassen. Da bringe ich eine Figur in ein Fernsehinterview. Der Mann wird gefragt: "Wie halten Sie es mit der Unsterblichkeit?" Und da antwortet er: "Meine Hosenträger sind unsterblich."

Weil man die entsprechend konservieren kann?
Stimmt. Aber was die andere Unsterblichkeit betrifft Ich weiß nicht, was ich heute Vormittag gesagt hätte, oder morgen oder übermorgen oder vor vierzehn Tagen. Im Augenblick habe ich mit der Sterblichkeit so viel zu tun, dass die Unsterblichkeit in meinem Bewusstsein keine Rolle spielen kann. Wenn ich ein bisschen darüber nachdenken würde, könnte ich sehr schnell sagen, dass es sich bei der Unsterblichkeit um eine Illusion handeln dürfte. Wir leben ja davon, dass wir Illusionen schaffen, und die Unsterblichkeit ist eine der schönsten. Die Religion ist hauptsächlich damit beschäftigt, uns eine Art Unsterblichkeit zu versprechen, und auch die Literatur gehört zu den Lieferanten der Unsterblichkeitsillusion. Nur bin ich nicht in jedem Augenblick imstande, die Illusion zu leisten. Heute halte ich mich für sterblich, total vernichtbar, auflösbar, so, dass nichts bleibt.

»Ich bin längst ein Überlebender. Mir sterben alle weg«

Macht Ihnen das Sterben Angst?
Das wechselt. Wenn man am Morgen aufwacht, und es tut einem nichts weh, dann muss man nicht wissen, wie alt man ist. Ich habe keinen Begriff oder keine Vorstellungskraft für das, was man Sterben nennt. Nur wenn ich das oder jenes zu erleiden habe, komme ich dem Wort "sterben" näher. Aber im Normalbewusstsein ist es ein Fremdwort, und auch in meinen Büchern wird verhältnismäßig wenig gestorben. Das kommt daher, dass ich damit keine Erfahrung habe. Deswegen bin ich da auch nur gering auskunftsfähig. Wenn mir nichts wehtut, dann habe ich kein richtiges Gefühl, so alt zu sein, wie ich bin. Wieso soll ich mich dann wie 89 fühlen, bloß, weil es diese Zahl gibt? Es ist nicht so, dass mir nie etwas wehtut. Aber jetzt gerade im Augenblick tut mir wieder nichts weh, und daran sind auch Sie mit diesem schönen Gespräch schuld.

Der alte Goethe war intellektuell einsam, er musste ohne Schiller, Herder und Wieland leben. Wenn wir das auf Böll, Siegfried Lenz und Grass umlegen, sind Sie doch der letzte Klassiker?
Egal, in welche Gesellschaft Sie mich hineinfantasieren: Ich bin längst ein Überlebender. Mir sterben alle weg, das hat mit Literatur nichts zu tun. Und wenn wieder einer gestorben ist, erlebe ich etwas, das ich vorher nie so deutlich gespürt habe: Ich merke erst, wie lieb mir der war. Und wie viel weniger lieb ein anderer, obwohl beide für mein Leben wichtig waren. Und jetzt kommt das Groteske: Um den, der mir im Leben ferner war, tut es mir mehr leid, weil ich das Gefühl habe, ihn mehr versäumt zu haben als den anderen.

Hätten Sie je vermutet, dass unsere europäischen Gewissheiten derart ins Wanken geraten würden? Wir stehen ratlos vor einer Flüchtlingswelle, viele bangen um die kulturelle Identität Europas.
Ja, sehen Sie, wir haben halt diesen Flüchtlingsstrom, und in 200 Jahren wird man diese Völkerwanderung als solche notiert haben. Es bleibt gar nichts anderes übrig, als sich diesen Notwendigkeiten zu stellen. Da, finde ich, ist die Frau Merkel hervorragend gewesen, als sie sagte: "Wir schaffen das." Was das in unserer Gesellschaft provoziert, zeigt nur, dass wir immer noch eine gespaltene Gesellschaft sind. Alle, die glauben, zu kurz gekommen zu sein, werden jetzt wach. Aber ich prophezeie, dass in zehn Jahren kein Mensch mehr die Namen dieser rechtsradikalen Gruppierungen kennt. Weil sie kein Gran Substanz haben, nur das Ressentiment, das sie mit den schlimmsten Vermächtnissen bewirtschaften, die es für Deutsche gibt. Sie glauben, damit können sie ein Geschäft machen, aber sie werden an ihrer eigenen Substanzlosigkeit scheitern. Nein, ich bin kein bisschen pessimismusfähig. Ich lese gerade, dass die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr mehr exportiert hat als je zuvor, und, das mag Ihnen vorkommen, wie es will: Mir tut das gut, wie diese Wirtschaft sich in der globalen Welt behauptet. Das ist das Gegenteil von Apokalypse.

»Es wird ja von Ihnen niemand erwarten, dass Sie den Koran aufsagen«

Sollen wir eigentlich den Islam an uns heranlassen, nachdem wir uns erst halbwegs von Jahrtausenden katholischer Gehirnwäsche befreit haben?
Es wird ja von Ihnen niemand erwarten, dass Sie die Suren des Korans aufsagen! Betrachten Sie es doch nicht so! Wenn hier Menschen kommen, die eine Moschee brauchen, muss man bei uns einen Platz finden, wo man diese Moschee bauen kann. Bitteschön! Gestern erzählte man mir von einem Autor, der erst mit zehn Jahren Deutsch gelernt und jetzt ein ganz tolles Buch geschrieben hat. Er sieht auch noch beneidenswert gut aus. Das ist doch wunderbar, eine Bereicherung! Wir erleben heute in Europa, was die USA im 18., im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert erlebt haben: ein Zufluchtsort zu sein, ein gelobtes Land, in das man geflohen ist. Die USA haben unendlich profitiert von diesen Flüchtlingen, und das Tolle ist, dass es in den USA immer noch italienische Viertel gibt. Dass die Ethnien weiter existieren. Da können Sie allen Pessimismus begraben. Die USA haben sogar einen Schwarzen als Präsidenten erwählt. Was sagt Ihnen das?

Dass sie jetzt einen Blonden haben, und keinen Guten.
Ach, lassen Sie das doch! Die USA haben zu unseren Lebzeiten einen Schwarzen zum Präsidenten gewählt. Da kann man doch nur sagen: Das grenzt an Demokratie.

Aber dass Europa am Ende ist, weckt in Ihnen doch weniger Optimismus?
Europa ist nicht am Ende! Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg wir hatten uns fast schon erledigt, und was jetzt in Straßburg und Brüssel passiert, ist fantastisch. Dass die Engländer ausgestiegen sind, kommt von der Insellage, da werden irgendwelche Kommunikationswege durch das Meer unterbunden. In zehn Jahren sind sie wieder dabei.

Dann beklagen Sie doch, bitte, den allgemeinen Rückgang des Lesens.
Das werde ich nicht. Stellen Sie sich vor: Ich schreibe ein Büchlein, "Statt etwas oder Der letzte Rank", in dem ich Abschied nehme von der leicht lesbaren, freundlichen Belletristik, ein Sprachspiel ohne Namen und Handlung. Und was passiert mir jetzt mit diesem Büchlein? Mir wurde gemeldet, dass es in der nächsten Nummer des "Spiegel" auf der Bestsellerliste steht. Was soll ich daraus schließen? Das sind doch Leser. Ich habe Ihnen schon vor Jahren gesagt, dass ich den Kulturpessimismus lächerlich finde. Und selbst wenn es einmal Anlass dafür geben sollte, selbst wenn es keine Leser mehr gäbe: Schriftsteller wird es immer noch geben.


Martin Walser

wurde am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren. Die Eltern betrieben die Bahnhofsrestauration und einen Kohlenhandel. Walser wurde als junger Mann zur Wehrmacht eingezogen, studierte Literaturwissenschaft und wurde mit Böll, Grass und Siegfried Lenz eine Schlüsselgestalt der Nachkriegsliteratur. Sein erzählerisches und dramatisches Werk ist riesig, "Ein fliehendes Pferd" wurde zum Weltbestseller. Walser hat vier Töchter: Alissa, Johanna und Theresia sind Schriftstellerinnen, Franziska reüssiert als Schauspielerin. Martin Walser lebt in München und am Bodensee.

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