Kein Kinderspiel, sondern ein Kraftakt: Lügen

Lügen? Wir tun es ständig

Kleine Kinder müssen das Lügen erst noch lernen, die meisten Teenager sind Profis und älteren Menschen ist es oft viel zu anstrengend: Durchschnittlich zweimal am Tag tätig jeder von uns eine Aussage, die nicht der Wahrheit entspricht. Am häufigsten wird für sich selbst gelogen.

von Lügen - Kein Kinderspiel, sondern ein Kraftakt: Lügen © Bild: Shutterstock

Wir tun es ständig. Die einen mehr, die anderen weniger. Die meisten tun es täglich, manche sogar stündlich. Oft aus purer Not heraus, aus Angst oder Unsicherheit, durchaus aber auch aus Lust und Laune, hin und wieder sogar absichtlich: 200 Mal pro Tag lügt der Mensch, heißt es. Die Zahl stammt von einem US-amerikanischen Psychologen namens John Frazier, hält sich beharrlich in der Berichterstattung rund um das Thema Lügen – und ist wohl eher zu hoch gegriffen.

Neuere Studien weisen darauf hin, dass der Durchschnittsmensch etwa zweimal pro Tag lügt, also bewusst eine Aussage tätigt, die nicht der Wahrheit entspricht. Psychologin Kristina Suchotzki von der Uni Würzburg, forscht seit sechs Jahren zum Thema Lügen. Sie sagt: „Die meisten lügen seltener als ein bis zweimal am Tag, eher ein bis zweimal in der Woche. Es gibt nur einen sehr kleiner Prozentsatz von Leuten, die sehr häufig lügen.“

Die Gründe, warum überhaupt gelogen wird, sind vielfältig. Die einen wollen bewusst ihr Gegenüber täuschen und über die wahren Umstände im Unklaren lassen. Andere lügen, um Tatsachen zu verschleiern und um mögliche Konsequenzen zu vermeiden. Höflichkeitslügen müssen hin und wieder sein, um das soziale Miteinander zu gewährleisten. Am häufigsten wird für sich selbst gelogen, sagt Suchotzki. „Vor allem, um sich besser zu fühlen. Aber auch in Situationen, wo man gut dastehen will – etwa in Jobinterviews oder beim ersten Date.“

Von Angesicht zu Angesicht

Eine aktuelle Studie hat die Beweggründe, wer es wie und warum im Alltag mit der Wahrheit nicht ganz genau nimmt, untersucht. 1.024 Personen wurden befragt. Knapp drei Viertel der Lügen werden demnach im direkten Gespräch von Angesicht zu Angesicht benutzt, jede fünfte Lüge wird telefonisch oder schriftlich übermittelt. Am häufigsten wird im Bekanntenkreis gelogen, am wenigsten bei Eltern und Vorgesetzten. Vier von zehn Befragten haben angegeben, am Vortag gegenüber Bekannten unehrlich gewesen zu sein. Jeder Dritte hat im gleichen Zeitraum seinen Partner oder seinen Arbeitskollegen belogen.

Auch ein Klassiker: Knapp die Hälfte der Befragten schiebt andere Verpflichtungen vor, wenn sie keine Lust auf ein Treffen mit Bekannten haben. Etwa jeder Fünfte belügt den Partner und heuchelt Gefallen am neuen Outfit, obwohl es ihm insgeheim überhaupt nicht gefällt. Im Job wird am ehesten aus kollegialen Gründen gelogen oder um sich in ein besseres Licht zu rücken: Vier von zehn Befragten würden den Vorgesetzten zum Schutz eines Kollegen belügen.

Stressresistenz ist gefragt

Einfach ist das Lügen freilich nicht. „Lügen ist anstrengender als die Wahrheit zu sagen“, sagt Suchotzki. „Ich muss mich konzentrieren, was ich erzähle. Ich muss in der Lage sein, eine bestimmte automatische Reaktion zurückzuhalten, nämlich die Wahrheit zu sagen und ich muss schauen, ob der andere meine Lüge gerade glaubt.“ Wer erfolgreich lügen will, muss also eine Menge Fähigkeiten beherrschen. „Als guter Lügner benötigt man vor allem ein gutes Gedächtnis und Stressresistenz. Sie müssen sich an das, was Sie behauptet haben, gut erinnern können und dabei die Ruhe bewahren“, ergänzt Professor Jörg Meibauer, Sprachwissenschaftler an der Universität Mainz. Er erforscht aus sprachwissenschaftlicher Sicht das Lügen.

Beide Experten sind sich einig: Lügner zu entlarven, ist schwierig. „Die lange Nase von Pinocchio gibt es nicht. Und es gibt auch kein eindeutiges Verhalten, das auf eine Lüge hinweist“, sagt Suchotzki. Entsprechend kritisch sieht sie auch deshalb Lügendetektoren. „Die meisten dieser Tests sind eigentlich Quatsch und werden von der Wissenschaft klar abgelehnt. In der Praxis werden sie trotzdem verwendet. So lange die Leute glauben, das ein Lügendetektor funktioniert, ist es möglich, Geständnisse zu bekommen. Leider wissen wir auch, dass solche Geständnisse nicht immer wahr sind.“

Teenager lügen am meisten

Auch Jörg Meibauer winkt beim Thema Lügendetektion ab. „ Man versucht, durch Beobachtungen der Gesichtsmuskulatur oder anderer Faktoren wie zum Beispiel Herzfrequenz oder Hautschweiß Indikatoren für das Lügen zu ermitteln. Doch was man eigentlich misst, ist die kognitive Anspannung eines Lügners.“ Laut Meibauer gibt es durchaus Hinweise darauf, dass sich Lügner sprachlich anders verhalten als Leute, die die Wahrheit sagen. „Aber dies gilt immer nur auf statistischer Basis, nicht in einem einzelnen Fall.“

Laut Statistik lügen Teenager zwischen 13 und 17 Jahren am häufigsten und am besten. Im Alter nimmt das Lügen eher ab. Älteren Menschen ist es in vielen Fällen zu anstrengend, die Unwahrheit zu sagen. Kleine Kinder müssen hingegen das Lügen erst noch erlernen, deswegen machen sie mehr Fehler als Erwachsene. „Die Häufigkeit des Lügens nimmt in solchen Lebensabschnitten zu, in denen besonders viele soziale Konfliktsituationen zu bewältigen sind oder wo um Anerkennung gekämpft wird“, sagt Meibauer.

Radikale Ehrlichkeit

Bleibt die Frage, ob es möglich ist, gänzlich lügenfrei durchs Leben zu gehen? Ja, meint Autor und Journalist Jürgen Schmieder. „Es ist nur extrem schwierig, weil wir Menschen so ans Lügen gewöhnt sind, dass es uns schon gar nicht mehr auffällt.“ Schmieder muss es wissen. Für seinen Bestseller „Du sollst nicht lügen!“ hat er das Experiment gewagt: 40 Tage keine einzige Lüge. Stattdessen 40 Tage radikale Ehrlichkeit. Das heißt auch: Wenn man gefragt wird, muss man ehrlich antworten. Wenn einem was auf der Seele brennt, dann muss man das auch sagen.

„Ich dachte, dass es ziemlich lustig sein könnte, mal 40 Tage lang nicht zu lügen - was für ein Irrtum“, erinnert sich Schmieder. Denn nicht zu lügen bedeutet eben auch, in einem Meeting aufzustehen und seine Meinung zu sagen, wenn einem was nicht passt. „Genau das fällt uns, weil wir so aufs Lügen getrimmt sind, oftmals schwer: Wir sagen lieber nichts, anstatt unsere Meinung zu sagen. Oder wir sagen, zur neuen Frisur der Kollegin: ‚Ja, schon schön’ - nur, um unsere Ruhe zu haben. Das erfordert schon ordentlich Mut, in so einem Moment zu sagen: ‚Nein, das gefällt mir überhaupt nicht.’“

Schlimme Komplikationen

Als Faustregel gilt: Menschen, die einen mögen, die können mit Ehrlichkeit auch umgehen - und wissen es sogar zu schätzen. „Genau deshalb hat man doch gute Freunde: Dass sie einem auch mal ehrlich sagen, wenn man sich auf dem Holzweg befindet“, sagt Schmieder. Größere Auswirkungen hatte sein 40 Tage Experiment allerdings im Büro: „Dort sind Menschen, die man jeden Tag sieht - oftmals bis zu acht Stunden lang. Es sind aber nicht immer Freunde, ganz im Gegenteil. Da sind oft Menschen dabei, die einen überhaupt nicht mögen. Man kann ihnen aber nicht aus dem Weg gehen. Jeder, der in einem Büro arbeitet, weiß, dass das bisweilen ein Minenfeld ist. Dort ehrlich zu sein, kann zu schlimmen Komplikationen führen. Es gab Kollegen, die haben danach jahrelang nicht mit mir geredet, nur weil ich ein paar Mal ehrlich ihre Arbeit kritisiert habe.“

Sein Fazit: Ehrliche Kritik muss nicht immer beleidigend sein. „Man muss nicht sagen: ‚Was bist Du doch für ein Idiot!’ Man kann es auch nett formulieren, ohne zu lügen. Man kann sagen: ‚Du, das war jetzt nicht so toll.’ Konstruktive Ehrlichkeit sozusagen.“

Schmieder ist überzeugt, Lügner zu erkennen – und zwar anhand von zwei einfach Tricks. Wer lügt, verwendet möglichst wenige Worte und möglichst wenige Details - weil er sich ja an alle Details der Lüge erinnern muss. „Wenn Sie also einen Lügner entlarven wollen, fragen Sie nach Details. Wenn er dann stockt oder sich widerspricht, sollten die Alarmglocken schrillen.“ Trick Nummer 2: Lügner haben Angst davor, dass sie entdeckt werden. „Wenn Sie also jemanden verdächtigen, achten Sie nicht darauf: Lügt der jetzt? Achten Sie eher darauf: Ist er nervös, obwohl er nicht nervös sein sollte?“ Schwierig wird es, notorische und professionelle Lügner zu entlarven. Und ein hoffnungsloser Fall sind jene Leute, die sich eine Sache so lange einreden, bis sie sie selbst glauben...

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