Daniel Kehlmann:
"Angst treibt uns voran"

Der Weltschriftsteller über seinen neuen Widerstandsroman "Tyll"

Im Roman "Tyll" erzählt Daniel Kehlmann vom anarchistischen Gaukler Eulenspiegel und vom Dreißigjährigen Krieg. Im Interview mit News erklärt er, was Tyll mit unserer Zeit zu tun hat

von Literatur - Daniel Kehlmann:
"Angst treibt uns voran" © Bild: News Deak Marcus E.

Auf den Feldern türmen sich Berge von Leichen, "nicht bloß Verwundete, sondern Männer mit Geschwüren, Männer mit Beulen im Gesicht, Männer mit tränenden Augen und sabbernden Mündern, nicht wenige lagen reglos und verkrümmt da, man hätte nicht sagen können, ob sie schon tot waren oder im Sterben lagen. Der Gestank war kaum mehr erträglich." Das wüste Szenario stammt nicht aus einer tagesaktuellen Nachrichtensendung, nicht aus Hollywood, sondern aus Daniel Kehlmanns neuem Roman "Tyll", der in diesen Tagen bei Rowohlt erscheint.

Man schreibt das Jahr 1632: Friedrich, der entmachtete König von Böhmen und Kurfürst von der Pfalz, zieht mit seinem Koch, wenigen Knechten und seinem Hofnarren nach Mainz, um vom Schwedenkönig Gustav Adolf Hilfe zu erbitten. Der Narr ist Tyll Ulenspiegel.

Anarchisch und gefährlich

Kehlmann, der anno 2005 mit dem Roman "Die Vermessung der Welt" über den Forscher Alexander von Humboldt und den Mathematiker Carl Friedrich Gauß zur weltliterarischen Adresse wurde, ist bei seinem jüngsten Roman ganz in seinem Element: nämlich in der hellsichtig aufbereiteten Historie.

»Ich wollte einen Roman über die großen Religionskriege schreiben«

"Ich wollte einen Roman über die großen Religionskriege schreiben, übers 17. Jahrhundert und das Barock. Wenn man sich mit der Literatur dieser Zeit befasst, tauchen da immer wieder diese wunderbaren, etwas dämonischen Narrenfiguren auf. Und plötzlich war die Idee da, Tyll Ulenspiegel in der Zeit zu versetzen", erklärt Kehlmann im News-Gespräch.

Der Konflikt mit Religionen, die Kriege zwischen Protestanten und Katholiken ziehen sich durch diverse Genres dieses Bücherherbstes. Sogar in der Unterhaltungssparte haben Ken Follett ("Das Fundament der Ewigkeit") und Dan Brown ("Origin") dem Thema ihre Romane verschrieben. Ist das Zufall, oder hat das Thema "Religion" wieder an Relevanz gewonnen?"Leider ist es wieder relevant geworden. Man hätte das noch vor ein paar Jahren nicht gehofft, aber so ist es gekommen. Und viele Bücher reflektieren das auf sehr unterschiedliche Weise", sagt Kehlmann und führt weiter aus: "Es ist eine natürliche Gegenreaktion. Mit Nietzsche könnte man sagen, dass Gott zwar tot ist, dass aber die Nachwirkungen seines Sterbens fürchterlich sind. Genau das erleben wir heute."

Die Geschichten über Tyll hat Kehlmann "in der schönen Fassung Erich Kästners gelesen", wie er erzählt, "und später Charles de Costers Roman über Ulenspiegel als Kämpfer im niederländischen Freiheitskrieg. Auch de Coster hat ihn übrigens zeitlich versetzt, ich war also nicht einmal der Erste."

Erste Belege für eine historische Figur namens Till stammen aus dem 14. Jahrhundert. Till von Kneitlingen soll als Straßenräuber und Gaukler in der Nähe des heutigen Braunschweig gelebt haben. Weitere Zeugnisse erzählen von einem Tilo Ulenspiegel aus der norddeutschen Stadt Mölln, der Narr am Hof des Herzogs von Sachsen-Lauenburg gewesen ist. Beide Tills gelten als Vorbilder für die überlieferte Figur des Rebellen und Gauklers, den wir heute als Till Eulenspiegel kennen. Historiker und Schriftsteller versuchten sich an der Ergründung der Gestalt, ein eindeutiges Bild ergab sich jedoch nicht.

"Er ist nicht festzumachen. Das ist das Wichtigste an ihm. Er ist eine Symbolfigur, aber man kann nicht einmal genau sagen, wofür, so unabhängig ist er und so unbeugsam! Wenn er für die Kunst steht, dann jedenfalls nicht für deren pädagogische, gesellschaftstaugliche Seite, sondern für das anarchische und gefährliche Element, das sie immer auch hat", erklärt Kehlmann, der seinen Tyll in verschiedenen Lebensabschnitten zeigt und ihn durch den Dreißigjährigen Krieg begleitet. Auch heute kommt Europa in vielen Teilen nicht zur Ruhe. In Spanien könnte der Bürgerkrieg durch die Abspaltungstendenzen Kataloniens drohen. Großbritannien ist dabei, die EU zu verlassen. In Deutschland werden rechte Parteien immer stärker.

Beunruhigt Sie dieser Zustand?

Natürlich beunruhigt er mich, sehr sogar, aber ich glaube, so schlimm, wie es vor vierhundert Jahren war, wird es nie wieder. Das lernt man, wenn man sich mit der Geschichte beschäftigt: So oft man auch verzweifeln möchte, so klar ist es doch, dass es den Fortschritt eben doch gibt! Im 17. Jahrhundert hat man sich vergnügt, indem man auf Volksfesten Tiere angezündet hat. Stellen Sie sich das vor! Heutzutage muss man das Anzünden von Tieren auf Volksfesten nicht ausdrücklich verbieten, es würde keinem einfallen. Daran sieht man, dass es Fortschritt gibt.

Der Dreißigjährige Krieg begann als Religionskrieg. Ist heute Ähnliches zu befürchten?

Nicht in Europa, aber in anderen Teilen der Welt findet es ja schon wieder statt.

Terror gab es aus religiösen Motiven bereits im 17. Jahrhundert. Sie erzählen im Roman auch von Guy Fawkes' Attentatsversuch auf den englischen protestantischen König. Sehen Sie Parallelen zu den Terroranschlägen heutiger religiöser Fundamentalisten?

Natürlich. Und als Guy Fawkes' Attentat scheiterte, nahm der englische König das zum Anlass für einen brutalen Feldzug gegen alle Andersdenkenden, gegen die vorgeblichen und die echten geheimen Protestanten. Auch damals lag schon eine große Gefahr des Terrorismus darin, dass er sogar dann, wenn er vereitelt wird, das politische Klima völlig verändert und Entschuldigung für autoritäre Tendenzen bietet.

Sie leben derzeit in New York. Was hat sich dort seit Donald Trumps Präsidentschaft verändert?

Trump-Wähler trifft man in New York ja eigentlich keine, aber man merkt eine Stimmung von Verzweiflung und Sorge und auch Unverständnis darüber, wie ein großer Teil des Landes einen bösartigen, offensichtlich dementen Mann zum Präsidenten wählen konnte. Die New Yorker haben noch mehr als früher das Gefühl, nicht wirklich zu Amerika zu gehören. Und das amerikanische Kernland teilt natürlich dieses Gefühl, gewissermaßen von der anderen Seite her.

Verfolgen Sie auch den Wahlkampf in Österreich?

Die Details sind aus Amerika schwer zu verfolgen, aber ich hoffe inständig, dass es nicht wieder zu einer Regierungsbeteiligung der FPÖ kommt. Das letzte Mal war es solch ein epochales Desaster. Und wenn es wirklich wieder passiert, würde Österreich international für eine ganze Weile als Paria dastehen. Die Österreicher sind doch immer so besorgt um ihr Bild dort draußen in der Welt. In diesem Fall sollten sie wirklich einmal daran denken.

In solchen Zeiten sind Künstler stets gefordert. Tyll ist für Kehlmann ein exem plarisch unabhängiger Künstler: Er scheut keine Autoritäten. Anlässlich seines Amtsantritts am Hof des Kurfürsten Friedrich von der Pfalz macht er dessen Gemahlin, der englischen Prinzessin Elizabeth, ein Geschenk: "Es war eine weiße Leinwand mit nichts drauf", liest man im Roman. Der Kurfürstin rät Tyll, das Geschenk wie ein Gemälde aufzuhängen. "Wer dumm ist" und "wer Übles im Schilde führt", sieht es nicht. Ist das eine Spitze gegen moderne Kunst? "Nein, überhaupt nicht", sagt er. "Das ist tatsächlich eine echte Geschichte aus dem alten Ulenspiegel-Volksbuch. Wenn es hier einen Künstler gibt, dann ist es Tyll, und er erreicht sein Ziel -nämlich die Bloßstellung gesellschaftlicher Lügen und Albernheiten -grandios."

Soll sich also jeder Künstler Tylls Unabhängigkeit bewahren?

Ja, absolut. Kunst ist nicht nur eine pädagogische, freundliche Sache. Jede Kunst, die etwas wert ist, muss einen Hauch des Dämonischen, Rätselhaften, ja Bösartigen haben. Wenn Tyll für etwas steht, dann wahrscheinlich dafür.

Kann man das überhaupt?

Manchmal ist es schwer, aber ja, man kann und muss es.

Haben Schriftsteller Narrenfreiheit?

Natürlich, ich würde sogar sagen, es ist einer der wenigen Berufe, denen man noch Narrenfreiheit einräumt. Sehen Sie sich den Aberwitz an, den Thomas Bernhard über alles und jedes behauptet hat, und die Reaktion ist fast immer ein heiteres: "Ach ja, so war der Bernhard eben!" Und das ist auch ganz richtig so.

Wie ist das bei Ihnen?

Ich glaube, der jahrelange Umgang mit Tyll hat mich etwas mehr Mut schöpfen lassen, in vieler Hinsicht. Tyll ist auch der Schutzpatron der Verantwortungslosigkeit. Er macht sich nie über irgendetwas Sorgen. Er ist völlig ungebeugt.

Wappnet einen Eulenspiegels Haltung gegen Kritiker?

Oh, besser: Man kann sich damit sogar gegen Strache und Trump wappnen!

Und gegen Angst? Sie sagten einmal, Sie haben Angst, dass Ihnen keine Geschichten mehr einfallen.

Das könnte man schon, aber als Schriftsteller sollte man vielleicht gar nicht zu angstfrei sein. Ich bleibe dabei: Angst ist unser tägliches Brot, sie hilft und beschützt uns und treibt uns voran. Deshalb sind Schriftsteller oft nicht gerade die entspanntesten Zeitgenossen.

Beharrlich bleibt jedenfalls der Dramatiker Kehlmann. 2009 zur Eröffnung der Salzburger Festspiele attackierte der Sohn des namhaften Regisseurs Michael Kehlmann das "sogenannte Regietheater" und befeuerte Debatten, die bis heute anhalten. Was am Theater damals, noch vor wenigen Jahren, für Aufregung sorgte, ist heute oft wiederholte Praxis. Konsequent hält Kehlmann an seiner Kritik am deutschen Theater fest.

Armselige Komödianten

Auch im Roman "Tyll" kommt es im Vergleich mit dem englischen nicht gut weg. Da liest man: "In deutschen Landen kannte man kein richtiges Theater, da zogen armselige Komödianten durch den Regen und schrien und hüpften und furzten und prügelten einander." Das erlebt auch die Prinzessin Elizabeth Stuart.

Ist das Kehlmanns Kritik am deutschen Theater heute? "Damals stimmte das natürlich hundertprozentig. Elizabeth Stuart ist tatsächlich mit Shakespeares Stücken aufgewachsen, das ist eine historische Tatsache. Für so jemanden muss Deutschland beziehungsweise "das Heilige Römische Reich Deutscher Nation" der Höhepunkt an erstickender Rückständigkeit gewesen sein. Ich gebe aber zu, dass es mir Spaß gemacht hat, aus ihrer Sicht die deutsche Rückständigkeit zu beschreiben. Auch aus persönlichen Gründen."

Seine Stücke bringt Kehlmann in Österreich am Theater in der Josefstadt heraus. Für diese Saison steht seine Übersetzung von Christopher Hamptons "All about Eve" auf dem Programm. Auch für die kommende Saison ist eine Adaption in Planung: "Die Engländer haben eine ältere Schauspieltradition als jedes andere Land der Welt. Das merkt man in der praktischen Arbeit mit englischen Schauspielern. Das heißt nicht, dass in England jede Aufführung besser ist als anderswo, aber der Standard ist einfach so unglaublich hoch. Außerdem ist der Respekt vor Dramatikern und vor Stücken als Text so hoch wie bei uns nur am Theater in der Josefstadt bei Herbert Föttinger."

Bleibt noch Tyll, der im Roman behauptet, dass er nicht sterben werde. Kehlmann: "Er erreicht am Schluss tatsächlich Unsterblichkeit. Nicht nur als Figur, sondern als Individuum. Er verlässt den Roman intakt -und ich könnte mir vorstellen, dass er dort draußen immer noch durch die Lande zieht."

Das ist die Utopie, die freie Geister wie den Kosmopoliten Kehlmann leitet.