Ein Sommerloch
im Frühlingswinter

Greta Thunberg ist Zug und die Klimakonferenz in Madrid an die Wand gefahren. Und worüber reden wir? Natürlich über die Zugfahrt

von Leitartikel - Ein Sommerloch
im Frühlingswinter © Bild: News/ Matt Observe

Anfang 2019 hatte sie ihren ersten großen Auftritt -als Zugreisende auf dem Weg zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Und auch in den letzten Tagen des Jahres rückt sie in die mediale Öffentlichkeit. Zur Abwechslung eher unfreiwillig. Auch diesmal ist Greta Thunberg Zug gefahren. Das allein ist längst keine Meldung mehr wert. Aber da sie einen Teil der Wegstrecke nach Stockholm sitzend auf dem Gang eines (natürlich) überfüllten Zuges der Deutschen Bahn zurückgelegt und dieses via Twitter kundgetan hat, reden wir also nochmals über die 16-Jährige. Was heißt reden? Wir (oder zumindest die anderen) beflegeln sie und echauffieren uns, reiben uns einmal mehr an Thunberg, Bahn und dem ganzen Drumherum. Wie, die UN-Klimakonferenz in Madrid, die Thunberg besucht hatte, ist ohne nennenswerte Ergebnisse zu Ende gegangen? Die Weltgemeinschaft hat sich dazu entschlossen, in Sachen Klimakrise einfach mal nichts zu tun? Geschenkt. Arbeiten wir uns doch lieber an einem Nebenthema ab - überfüllte Züge mit einer prominenten Gangsitzerin. Ein Nachrichtensender hat dazu sogar eine Infografik produziert: Wann und wann nicht hatte Thunberg einen Sitzplatz -die Thunberg-Sitzplatz-Grafik also. Und das Presseteam der Deutschen Bahn muss obendrein noch zum Rapport. Es gibt Klärungsbedarf. In Sachen Datenschutz ("Erste Klasse! Sitzplatz! Freundliche und kompetente Betreuung!"). Und im Umgang mit Fahrgastrechten. Statt die zugreisende Umweltaktivistin als Werbecoup zu nutzen, steht ein PR-Desaster auf der Habenseite. Kläglich versagt. So bitter kann ein Jahr zu Ende gehen.

So verbittert verläuft seit einiger Zeit überhaupt unsere Kommunikation auf allen Kanälen und zu so ziemlich allen Themen. Der Pulsschlag der Erregung ist immer hoch. Einen Mittelweg gibt es längst nicht mehr. Schon gar nicht, wenn man sich wie bei Thunberg auf eine Spielwiese zwischen hymnischer Verehrung und blankem Hass ("überschätzteste Göre ever" - und das ist noch eine der nettesten Umschreibungen im heurigen Jahr) begibt. Das Nichts wird immer mehr zum Thema. 2019 - und wohl auch 2020.

Dabei gibt es Themen, die es wert sind, in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Die uns aber -und dabei geht es auch um Kinder -nur eine Randspalte, eine Kurzmeldung wert sind. Hitzige Debatten auf den Social-Media-Kanälen lösen sie jedenfalls nicht aus, die Kinder in Afghanistan, an deren Schicksal das Kinderhilfswerk Unicef Anfang dieser Woche erinnert hat. 2019 sei für diese Kinder ein verheerendes Jahr gewesen. Durchschnittlich werden jeden Tag neun afghanische Kinder getötet oder verstümmelt -beim Spielen, auf dem Weg zur "Schule". Und auch in Sachen UN-Flüchtlingspakt, den vor rund einem Jahr 176 Staaten unterzeichnet haben, wurde dieser Tage Jahresbilanz gezogen: kurz, knapp, wenig hoffnungsvoll, aber dafür mit einem Lippenbekenntnis mehr auf der To-do-Liste: Es muss mehr getan werden. Es muss mehr Geld fließen. Denn die weltweite Flüchtlingskrise ist vor allem eine Krise der internationalen Zusammenarbeit. Noch nie mussten so viele Menschen fliehen wie 2019. In Summe 70,8 Millionen Menschen. Der guten Ordnung halber: 41,3 Millionen bringen sich im eigenen Land in Sicherheit, knapp 26 Millionen gehen in die Nachbarländer. Es gibt sie, die echten Probleme. Reden wir darüber.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: gulnerits.kathrin@news.at

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