Von Last und Belästigung

Die Maske aufsetzen, wenn der Zug die Wiener Stadtgrenze quert: eine kleine Alltagsgroteske, die nichts Gutes für den Herbst erwarten lässt.

von Anna Gasteiger © Bild: News/Ricardo Herrgott

Zugpassagiere können derzeit ein lustiges Phänomen beobachten: Menschen, die stundenlang maskenlos in einem vollen Railjet Schulter an Schulter gesessen sind, setzen bei der Wiener Stadtgrenze plötzlich unaufgefordert FFP2-Masken auf. Weil nur in Wien noch eine Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln gilt. Erstaunlich eigentlich, dass die Gehirnregion, die für das Merken von Corona-Regeln zuständig ist, überhaupt noch aufnahmefähig ist. Wenn auch auf Kosten des logischen Denkens.

Das bleibt von Corona im Juni 2022, kurz vor der nächsten Welle: ein Rest von Maßnahmen, denen politische Vereinnahmung das letzte bisschen Sinn genommen hat. Maske ja? Nein? Keine sachliche Entscheidung, sondern ein Spiel der Mächtigen mit dem Ziel, sich bei den jeweiligen Wählergruppen beliebt zu machen. So wird's zumindest vielerorts wahrgenommen. Das nährt den allgegenwärtigen und nicht ganz neuen Generalverdacht: Wissen die vielleicht gar nicht so genau, was sie tun? Eine fatale Ausgangslage für den kommenden Herbst.

Voraussichtlich im November findet die Bundespräsidentenwahl statt. Alexander Van der Bellen geht als beliebter, aber auch angreifbarer Amtsinhaber ins Rennen. Die FPÖ ist gerade dabei, eine eigene Kandidatin aufzustellen, deren Aufgabe vor allem darin bestehen wird, die politische Debatte zugunsten der FPÖ aufzuheizen. Das wird nicht schwer. Die explosiven Themen liegen auf der Straße, Stichwort Impfpflicht. Die ÖVP, die 2023 in drei Bundesländern starke Wahlergebnisse verteidigen muss, bringt das in eine schwierige Situation. Sie versucht schon jetzt, ehemalige FPÖ-Wähler, die unter Kurz zur ÖVP wechselten, laut Umfragen aber mittlerweile andere Parteien bevorzugen, mit einschlägigen Botschaften zurückzuholen. Nur so lassen sich die jüngsten Verbalausritte von Generalsekretärin Laura Sachslehner erklären. Schwer vorstellbar, dass die Kanzlerpartei sich vor dem Hintergrund aggressiv geführter FPÖ-Wahlkämpfe, die sicher auf Impfgegner und Maßnahmenskeptiker zugeschnitten sein werden, zu mutiger Corona-Politik durchringt.

»Kann sein, dass der kommende Corona-Winter der schlimmste von allen wird«

Auch von den Grünen, die sich in den letzten Jahren vor allem als Machtpragmatiker bewiesen haben, wird nicht viel zu erwarten sein. Und die SPÖ? Fährt in Wien das Gegenprogramm zum Bund und stichelt ansonsten, wo es geht.

In den frühen Phasen der Pandemie gab es einen gewissen Schulterschluss der politischen Parteien. Im Jänner 2021 bestritten ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz, Wiens SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig und der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober gemeinsam eine Pressekonferenz, heute undenkbar, nicht nur, weil Kurz die Politik verlassen musste. Auch das ursprüngliche Bekenntnis zur Impfpflicht im Spätherbst 2021 wurde aus Staatsräson von allen relevanten Parteien mitgetragen.

Aber die Situation hat sich geändert. Die Pandemie verliert scheinbar an Wucht, der süße Geruch von (Neu-)Wahlen liegt in der Luft, die politischen Karten scheinen neu gemischt. Eine gefährliche Mischung. Kann sein, dass der nächste Corona-Winter der schlimmste von allen wird: wenn zur Last der Pandemie auch noch die Belästigung durch offenen Politstreit kommt.

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