Die andere Wahrheit zur Krise der "Josefstadt"

Wiens erfolgreichste Bühne hat unter der Pandemie schwer gelitten. Ein Erklärungsversuch zeigt eine andere als die allseits verbreitete Faktenlage. Und in Berlin triumphierte Paulus Manker.

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Die Anteilnahme der Mitbewerberschaft ist keineswegs von unvermischtem Mitgefühl getragen: Da demütigt einen die vergleichsweise kleine "Josefstadt" über Jahrzehnte mit anhaltend erstklassigem Besucheraufkommen, Abonnentenzahlen in der Nähe des Burgtheaters und, daraus folgend, 40 Prozent Eigendeckung. So viel hat man, ein Unikum nicht nur hierorts, zu Normalzeiten über Kartenerlöse ins Budget gespielt. Sogar zwei Renovierungen bewältigte man dank diskreter, vom Gebotenen überzeugter Sponsoren großteils aus eigener Kraft. Und ungeachtet wiederkehrender Berümpfungen durch das realitätsverlorene Präpotenzfeuilleton ist die "Josefstadt" das aktivste Uraufführungstheater des Landes: Peter Turrini, Felix Mitterer, Daniel Kehlmann (und wer sonst noch mit seinem Schaffen nicht in der postdramatischen Wurstmaschine Platz zu nehmen wünscht) haben hier die Heimat gefunden. Als Nächster kommt Tom Stoppard mit der autobiographischen Pretiose "Leopoldstadt", an deren Erstaufführung auch die "Burg" interessiert gewesen wäre.

Und jetzt geht es der "Josefstadt" endlich gar nicht gut, wie Sie auch auf Seite 96 nachlesen können. Wenn ein Haus den Großteil seines Aufkommens selbst erwirtschaftet, schlagen sieben Monate Sperre ruinös zu Buche. Wohingegen andere, schlecht Besuchte, mit Hilfe der Kurzarbeit ihre elefantösen Personalkosten minimiert haben und auf diese Weise so gut bilanzieren wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Und just diese Kurzarbeit ist es, die jetzt Probleme verursacht und den (von der Direktion selbst einbestellten) Wirtschaftsprüfer ins Haus gebracht hat. Aus Stolz und Trotz wegen der unsinnigen Theatersperre gegen alle virologischen Erkenntnisse habe Direktor Herbert Föttinger fahrlässig auf die Kurzarbeit verzichtet. So geht zumindest die unfreundliche kollegiale wie publizistische Nachrede. Jetzt ist das Haus in einstelliger Millionenhöhe verschuldet und muss saniert werden. Nun könnte man einwenden, das hiefür erforderliche Geld wäre so und so von der öffentlichen Hand gekommen. Aber dass es jetzt dem ohnehin rachitischen Kulturbudget entzogen werden muss, amüsiert die Branche nur eingeschränkt.

»Die Alternative: gar nicht proben, Regieteams auszahlen und jetzt ohne Spielplan dastehen«

Seitens der "Josefstadt" unterbleibt bis zum Abschluss der Wirtschaftsprüfung jeglicher Kommentar. Aber kundige Sympathisanten haben mir eine ganz andere Lesart zukommen lassen: Wieder und wieder habe die Regierung mit haltlosen Öffnungsversprechen die Theater in Alarmbetrieb versetzt. Notspielpläne wurden erstellt und wenig später Makulatur. Erst am 7. und dann am 18. Jänner möge man sich bereithalten, aber nur an Wochenenden, denn über die anderen Tage war die Ausgangssperre verhängt. Und so ging es bis zum Frühsommer. Deshalb probten alle großen Bühnen ihre Produktionen, die jetzt die Spielpläne fluten. Hätte nun die "Josefstadt" ihre 35 Bühnentechniker, die zwei Häuser bespielen müssen, in Kurzarbeit geschickt, so hätte man gar nicht proben können. Man hätte die Regieteams auszahlen und nach Hause schicken müssen und stünde jetzt ohne Spielplan da. Weshalb das für die "Burg" nicht gilt? Weil das technische Personal dort geschätzte zwei bis drei Mal so zahlreich ist. Damit wird ein Mehrschichtenbetrieb möglich, der sich elegant in die Erfordernisse der Kurzarbeit fügt.

Eine Pointe des Schicksals will es, dass das Postskript dieser Kolumne Föttingers giftigstem Gegner gilt: Paulus Manker schließt in diesen Tagen ein Projekt des schieren Aberwitzes ab. In Berlin, wo man bis vor eineinhalb Monaten weder mit ihm noch mit Karl Kraus etwas anzufangen wusste, wuchtete er unter dem Risiko des persönlichen Bankrotts die unaufführbaren "Letzten Tage der Menschheit" auf 16.000 Quadratmeter Nirgendwo. Am Wochenende wird abgebaut, und jetzt gibt es keinen Berliner Kulturmenschen mehr, der nicht wüsste, mit wem er es zu tun hatte: Zwölf der 14 Vorstellungen waren ausverkauft, und das bei sieben Stunden Länge und 115 Euro Einheitspreis. Feuilletonisten, auch die selbstüberzeugten, begrüßten die Aufführung des Jahres, im nächsten Sommer wird wiederholt. So geht es, wenn einer die Energien, die andere beim Sudern vergeuden, ins Unmögliche investiert.