Was den Eltern blüht, wenn die Kinder flügge werden

Wenn der Nachwuchs flügge wird, beginnt für die Eltern ein neuer Lebensabschnitt. Man ist 49, fühlt sich wie 29 und wird behandelt wie 79, sagt Bestsellerautor Jan Weiler. Sein simpler Rat: Cool bleiben.

von Interview - Was den Eltern blüht, wenn die Kinder flügge werden © Bild: iStockphoto.com
Jan Weiler Jan Weiler, 1967 in Düsseldorf geboren, ist Journalist, Bestsellerautor ("Das Pubertier"). Und Vater. Jetzt, wo die Kinder fast aus dem Haus sind, hat er Zeit, sich um sich selbst zu kümmern. Mit allen Begleiterscheinungen, die das so mit sich bringt, wenn der Nachwuchs flügge wird. Plötzlich gehört er nämlich zur Gruppe der milde belächelten, ahnungslosen Älteren: Man ist 49, fühlt sich wie 29 - wird aber behandelt, als sei man 79. Die Zukunft? Ungewiss. Oder doch nicht?
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Herr Weiler, welche Phase ist aus Elternsicht mühsamer? Die Pubertät -die Sie ja auch schon in Buchform gegossen haben - oder jene, wo die Kids flügge werden, ausziehen, uns nicht mehr brauchen?
Es wird nach der Pubertät wieder leichter. Weil sie eigene Entscheidungen treffen und einen auch nicht mehr an allem teilhaben lassen. Man ist quasi aus einigem raus. Außerdem werden die Gespräche auch wieder leiser, was ich sehr befürworte.

Was war bei Ihnen der erste Meilenstein, wo Sie das Gefühl hatten: Jetzt entgleiten uns die Kinder?
Die Entscheidung, sich tätowieren zu lassen und dazu vorab keine Meinung bei den Eltern einzuholen. Da ist die Frage, ob das den Eltern gefällt oder nicht nachrangig. Wenn es einem nicht gefällt, hat man halt Pech gehabt. Die Kinder machen sich nicht mehr so viele Sorgen, dass das irgendwie sanktioniert werden könnte, weil sie halt selber bestimmen.

Ich bin unlängst draufgekommen, dass es plötzlich uns Eltern als Wecker nicht mehr braucht. Die Jungs stehen von alleine auf ...
Ja, sie möchten nicht mehr geweckt werden. Sie möchten kein Frühstück mehr. Sondern sie machen sich selber einen Espresso, schütten zwei Tütchen Zucker rein und hauen ab. Das stimmt einen natürlich manchmal auch ein bisschen sentimental. Weil man das Gefühl hat, dass das, was man vorher jahrelang getan hat, dadurch entwertet würde. Von dieser Sicht muss man sich ein bisschen verabschieden. Natürlich mochten sie es gerne, dass man in der Früh das Frühstück für sie gemacht hat. Jetzt ist das muttersöhnchenmäßig, wenn der Papa morgens noch Rührei serviert. Die meinen das nicht böse. Es geht nur darum, in ein eigenes Leben zu finden. Das kann man eben schlechter, wenn man noch am Frühstückstisch sitzt und der Papa kommt mit dem Rührei. Das finden sie aber in anderen Zusammenhängen wieder super -zum Beispiel im Urlaub.

Ist es hilfreich, sich als Eltern eine Art Mantra zurechtzulegen: Das ist jetzt halt so?
Das Mantra ist nicht schlecht. Ich neige dazu, vieles persönlich zu nehmen. Zu dem Mantra gehört auch: Die meinen das nicht so. Die wollen uns nicht raushaben, sondern ihr eigenes Leben reinhaben. Dazu ist es eben nötig, dass sie einen erst nach der Tätowierstunde informieren und nicht davor. Sie haben auch keine Lust, sich den ganzen Schmarrn anzuhören: Mach das irgendwo, wo das Tattoo nicht sichtbar ist. Was ist, wenn dir das in ein paar Jahren nicht mehr gefällt? Also diese ganzen Elternsprüche. Sie wissen sowieso, was ich sagen würde und nehmen das als gegeben hin. Aber hören wollen sie es deswegen trotzdem nicht.

Also Klappe halten, zurücknehmen und die Kinder einfach mal tun lassen?
Das hat ja auch ein bisschen was mit Vertrauen zu tun. Wenn ich ständig nachschaue, was sie so machen, heißt das ja auch, dass ich ihnen nicht zutraue, dass sie es richtig machen. Oder ich will noch irgendwie meinen Einfluss geltend machen. Das ist natürlich totaler Quatsch. Man muss in solchen Situationen auch daran zurückdenken, wie das war, als man selber von Zuhause ausgezogen ist. Ich bin damals in eine WG gezogen. Für meine Mutter war dieses Loslassen unheimlich schwierig. Für meinen Vater nicht so. Ich habe das sehr genossen, dass er cool war und mich hat einfach machen lassen.

»Die wollen uns nicht raushaben, sondern ihr eigenes Leben reinhaben«

Loslassen klingt in der Theorie so einfach. Aber in der Praxis ist das eine ziemlich schwierige Nummer.
Ja, klar. Weil man natürlich als Glucke, die ich ja bin, das Gefühl hat, man würde die Kinder einer unbarmherzigen und vor allem wahnsinnig gefährlichen Welt aussetzen. Man muss das andersherum sehen. Die Kinder werden diese Welt gestalten. Und sie sollen es anders machen als wir. Dazu muss man sie auch lassen. Ich kann ja nicht auf der einen Seite sagen: Hab eine eigene Meinung, vertrete deine Ansichten, sorge dafür, dass deine Vorstellungen von der Welt Wirklichkeit werden, und auf der anderen Seite sage ich: Nimm dich bloß in Acht. Das geht nicht.

Sind wir Eltern heute anders als unsere Eltern? Oder empfinde ich mich als Mutter nur als cooler, als gelassener, als es meine Mutter je war?
Sie sind cooler als Ihre Eltern, weil Sie ja selber schon in einem popkulturellen Kontext aufgewachsen sind. Ihre Eltern aber nicht. Dieser popkulturelle Kontext hat sich nicht wahnsinnig verändert von unserer zur Generation unserer Kinder. Was es für die Kinder übrigens auch schwerer macht, sich abzugrenzen, weil wir mit den Kindern die Klamotten teilen, auf dieselben Konzerte gehen. Und gekifft haben wir auch. Für die Kinder ist der Abgrenzungsprozess viel leichter, wenn die Eltern ein anderes Leben hatten. Meine Mutter musste ihren Vater anflehen, mal dieses neue amerikanische Getränk ausprobieren zu dürfen. Wir haben als Kinder schon Cola getrunken. Und unsere Kinder auch. Da gibt es diesen Kampf nicht. Was sollen denn meine Kinder gegen mich rebellieren? Meine Kinder hätten mich niemals mit einem Nasenring oder blondierten Haaren hinter dem Ofen vorlocken können, weil ich das aus meiner Jugend kenne. Das macht es für sie unendlich schwerer mit der Abgrenzung. Ich hatte ab meinem 16. Lebensjahr blondierte Haare -so Billy-Idol-mäßig. Ich hatte auch eine weiße Jeans mit roten und schwarzen Spritzern drauf. Der einzige Mensch, dem das damals gefallen hat, war die Kunstlehrerin. Da haben es unsere Kinder heute wahnsinnig leicht.

Werden unsere Kinder heute anders flügge als wir damals?
In meiner Jugend ist man doch nicht mit 16, 17 mit seinen Freunden essen gegangen, so mit Kellner und dem ganzen Drumherum. Heute gibt es wahnsinnig viele Gastrokonzepte, die auf junge Leute aufgebaut sind. Diese ganzen Burger-Dinger und große Ketten - das sind Taschengeld-Ablieferungsstellen. Auch mit dem ganzen Online-Konsum - T-Shirts, Sneakers aus Amerika - haben die einen ganz anderen Zugriff auf Konsum, als wir den hatten. Was wir mit unserem Taschengeld machen konnten, war in einem sehr kleinen Radius erreichbar. Heute ist dieser Radius wahnsinnig groß und die Möglichkeiten sind riesig. Die werden natürlich anders flügge, weil sie andere Konsumerfahrungen machen als wir. Das Ausgeben von Geld und der Umgang mit der Tatsache, dass dieses Geld auch relativ schnell weg ist, führt dazu, dass man anders darüber nachdenkt. Dass man sich einen Job sucht. Ich kenne im Freundeskreis meines Sohnes fast niemanden, der nicht irgendwie was jobbt.

Kommt an diesem Punkt auf uns Eltern nochmal ein Erziehungsauftrag zu, eine Art Steuerungsfunktion oder müssen wir es auch hier rennen lassen, so wie es ist?
Letzteres. Mit zwölf Jahren ist Erziehung erledigt. Was die Kinder bis zwölf nicht begriffen haben, oder was Sie denen bis dahin nicht eingetrichtert haben, kriegt man auch später nicht mehr rein. Den Rest übernimmt die Peergroup - die Eltern sind draußen. Was ich machen kann, ist, denen zu erklären, wie das funktioniert. Und dann darauf zu bauen, dass sie diese Erklärung umsetzen in Handlungen. Und ich kann darauf vertrauen, dass die Kinder einen bestimmten Wertekontext von den Eltern mitbekommen haben. Aber Verhindern in dem Sinne, dass ich sage: Mach das bloß nicht. Das kann ich nicht.

Wenn aus den Pubertieren langsam Erwachsene werden, ist es an Mama und Papa, sich zu verwandeln. Eben noch Eltern, mit denen gekuschelt und gestritten wurde. Plötzlich sind sie "Die Älteren"*. (Piper)

Es gibt in Ihrem Buch auch einige sehr unterhaltsame Kapitel, wo Sie schildern, wie die Freunde Ihrer Kinder in das Familienleben reinspielen: Sie reden nur Unsinn und plündern den Kühlschrank, ohne zu fragen. Wie damit umgehen?
Es passiert vieles, das sollte man einfach durchziehen lassen. Wenn ich mir anhöre, was die da zeitweise für Blech reden, dann denke ich mir mittlerweile: Sollen sie ruhig machen. Ich versuche mich von dieser Haltung -Papa weiß alles und kann alles erklären - zu lösen. Also, wenn die tatsächlich der Meinung sind, dass Trump einen 50.000 Quadratmeter großen Geheimbunker in Panama hat, wo er sich zurückziehen will, um sich nach seiner Entmachtung dem Gefängnis zu entziehen, dann sollen sie das ruhig denken. Dagegen zu argumentieren ist schwierig. Es sei denn, jemand dieser Freunde fängt an, krass rassistische, homophobe, frauenfeindliche Geschichten vom Stapel zu lassen. Da würde ich eingreifen. Das hat aber nichts mit Erziehung zu tun, sondern damit, dass ich in meiner Wohnung niemand haben will, der solche Sprüche klopft.

Sie schreiben auch, dass Sie der höllische Pragmatismus dieser Generation fertig macht. Wie meinen Sie das?
Diese Generation kann ihre Bedürfnisse wahnsinnig klar formulieren. Und sie tun vieles, was wir früher nicht gemacht hätten. Ich hätte in einem fremden Elternhaus nicht danach gefragt, ob ich was trinken kann. Da sind die heute total anders und sehr angstfrei, was ja gut ist. Jene Freunde, die sich bei uns gut auskennen und öfter kommen, gehen selber an den Kühlschrank und nehmen sich was raus. Da muss ich immer abwägen: Finde ich das jetzt unverschämt oder ist das eigentlich schön, dass sie sich hier so wohl fühlen, dass sie selber an den Kühlschrank gehen? Ich habe mich für Letzteres entschieden. Das ist stressfreier.

Welche Augenblicke sollte ich noch genießen, bevor meine Kinder das Nest verlassen?
Genießen sollte man die Momente, in denen für die Kinder Familie noch sehr wichtig ist - etwa, wenn alle gemeinsam in die Lieblingspizzeria gehen. Später kommt der Tag, wo die Lieblingspizzeria der Familie überhaupt keine Rolle mehr spielt, weil die Kinder plötzlich lieber Indisch essen gehen. Oder weil sie mit Freunden eine andere Pizzeria entdeckt haben. Man sollte die Momente genießen, wo die Kinder noch von sich aus den Wunsch haben, mit den Eltern zusammen zu sein oder an denen zu sein - das Kuschelbedürfnis geht irgendwann weg und das geht schneller rum, als man denkt. Wenn ich meinen Sohn hie und da küsse, sagt er: "Boah, hau ab, du Homo!" Ich weiß natürlich, wie er das meint. Und natürlich mag er das. Aber er kann sich das nicht zugestehen. Dafür ist er einfach zu cool.

»Genießen sollte man die Momente, in denen für die Kinder Familie noch wichtig ist«

Der letzte gemeinsame Familienurlaub gehört wahrscheinlich auch dazu, oder?
Wir haben dieses Jahr nicht mehr gemeinsam Urlaub gemacht. Die Kinder -sie sind jetzt 18 und 22 - waren mal für eine Woche da. Aber auch nicht gleichzeitig, sondern nur noch in Splittergruppen. Das war aber auch ganz gut. Die Gespräche verändern sich übrigens auch. Es geht nicht mehr um die Frage, wie Darth Vader in seinem Anzug auf die Toilette geht, sondern um Klimaschutz oder ob ein Auto noch Sinn macht. Ich finde das sehr bereichernd. Das ist der Lauf der Dinge. Man entwickelt sich dabei auch. Man wird älter

Apropos: Wann merkt man, dass man nicht mehr Mutter oder Vater im klassischen Sinne ist, sondern zur Gruppe der "Ältern" gehört, wie auch Ihr Buch heißt?
Wenn man nicht mehr mindestens fünf Interpreten der Singlecharts kennt und wenn einem mehr als die Hälfte der Interpreten absolut nichts mehr sagt, dann ist man raus. Oder wenn man die Sneakermarken nicht mehr kennt. Man merkt, dass man Eltern mit "Ä" wird, wenn einem das völlig wurscht ist. Es gibt für mich nichts Langweiligeres als Instagram- Storys und es berührt mich nicht, wie viele Leute was liken. Das bedeutet aber auch, dass ich mich in der Erlebniswelt meiner Kinder nicht zurechtfinde. Sich nicht mehr zurechtzufinden, ist ein Zeichen dafür, dass man älter wird.

Das klingt jetzt fast ein bisschen harmlos. Im Buch schreiben Sie: Man fühlt sich wie 29 und wird behandelt wie 79. Ich erlebe das gerade. Das ist brutal.
Das stört mich natürlich auch extrem. In dem Moment, wo die Kinder rechts und links an mir vorbeisausen, habe ich das Gefühl, dass meine Kenntnisse von bestimmten Dingen entwertet sind. Wenn mein Sohn Hiphop-Nummern hört und da ist ein Sample aus einer Soulnummer aus den 70er-Jahren drin und ich sage: Das ist übrigens von Marvin Gaye. Das ist auf dieser und jener Platte. Das solltest du dir mal anhören. Dann antwortet mein Sohn: Warum soll ich mir das anhören? Na, das ist das Original! Und er: Das Original interessiert mich nicht die Bohne. Das finde ich natürlich irgendwie gemein. Denn meine Kenntnis darüber, dass das von Marvin Gaye ist, spielt für ihn überhaupt keine Rolle. Es könnte auch von Roy Black sein.

Das heißt, dass wir milde belächelt und als ahnungslos hingestellt werden, da müssen wir durch?
Das ist der Lauf der Dinge. Meine Eltern müssen auch damit klarkommen, dass sie sich mit gewissen Dingen nicht auskennen. Ich hatte früher einen missionarischen Ehrgeiz, um meinen Eltern den Unterschied zwischen Reggae und Punkrock zu erklären. Denen war das aber auch egal. Für die war das beides mehr oder weniger laut und unerträglich. Damit hatte sich die Sache. Natürlich muss es Dinge geben, die ich als Vater doof finde - Sido und Bushido und dieser ganze Kram. Das wäre für meinen Sohn ja furchtbar, wenn ich das super fände. Aber er spielt es mir trotzdem immer vor, im Auto auf längeren Fahrten. Und dann sagt er immer: Der nächste Track, der könnte dir gefallen. Und dann diskutieren wir drüber. Das finde ich wieder sehr schön.

Ich fürchte mich ein bisschen vor dem Tag, wo die Kinder weg sind. Dann hat man im besten Fall noch einen Ehemann oder einen Partner. Aber ansonsten ist man wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Mit viel Tagesfreizeit, weil man keine Hausaufgaben mehr kontrollieren muss, keine Elternsprechtage mehr anstehen, keine Chauffeur-Dienste. Und jetzt?
Cool bleiben und Projekte angehen, die man schon immer machen wollte. Reiseziele ansteuern, die man mit den Kindern nie ansteuern konnte. Im Grunde genommen ist es doch gut, wenn man die ganze Zeit so vergesellschaftet war als Person und in einer Funktion war, sich von diesen Funktionen zu lösen. Das machen ja die Kinder mit einem auch. Wenn sie kein Rührei mehr haben wollen, dann ist diese Funktion abgeschafft worden. Das bedeute, man kann länger schlafen. Das kann auch sehr befreiend sein. Die Frage ist, wie man das ausgestaltet. Ob man sie einfach lässt oder ob man von den Kindern verlangt, dass sie sich jeden Donnerstag um acht Uhr am Abend melden. Es gibt ja nichts Schlimmeres als Eltern, die ihre Kinder noch Jahrzehnte beim Kauf einer Couchgarnitur beraten - oder bei der Partnerwahl. Das ist schrecklich. Meine Tochter und ich leben in derselben Stadt, aber wir haben gar nicht viel Kontakt. Vielleicht dreimal im Monat. Ich finde das richtig gut, weil wir uns dann eine Menge zu erzählen haben. Und ich das Gefühl habe: Ja, sie hat ihr eigenes Leben. Sie macht ihr Ding. Wenn was ist, wird sie sich schon melden.

Dieses Interview erschien ursprünglich im News 35/2020.

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