Frisches Wunder,
alte Wunden

Kroatiens Kicker haben es in Russland sensationell ins Finale geschafft und damit für die größte Überraschung dieser Weltmeisterschaft gesorgt. Aber wie? Der Fußball steht in dem kleinen Balkanland für den Traum von einem besseren Leben -aber auch für ein unauslöschliches nationales Trauma

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Fussball - Frisches Wunder,
alte Wunden

Unsere schöne Heimat, "Lijepa naša domovino": Als die kroatische Hymne bei der Fussball-WM in Russland vom Band lief, legten die Nationalspieler wieder synchron den rechten Unterarm über die Brust und die Hand aufs Herz und schmetterten der Welt voller Inbrunst: "Blaues Meer, sag der Welt, dass der Kroate sein Volk liebt, solange das Grab seine Toten bedeckt, solange ihm sein lebendiges Herz schlägt."

Bis zu einem gewissen Grad eine patriotische Schmierenkomödie - aber eine mit todernstem Unterton. Doch davon später.

Zunächst ist da das alles überstrahlende Wunder, als das der Erfolgslauf des kroatischen Teams, der "Reprezentacija", angesichts der kurzen Geschichte als eigenständige Sportnation (27 Jahre), der überschaubaren Einwohnerzahl des Landes (4,2 Millionen) und der desolaten Verhältnisse in der heimischen Liga durchgeht. Ein Wunder, das mit den Marienerscheinungen von Međugorje im kroatisch dominierten Teil Bosniens problemlos mithält.

Das kleine Kroatien im Finale einer Weltmeisterschaft, Österreich im passiven Abseits, wie geht das? Was, fragt sich der fußballaffine Alpenländer, machen die Sportfreunde aus dem sonnigen Süden nur so fundamental anders als wir?

"Womöglich sind die Spieler ein bisschen talentierter als die Österreicher, auf jeden Fall aber sind sie erfolgshungriger", sagt einer, der beide Welten in-und auswendig kennt: Nenad Bjelica, gebürtig aus Ostslawonien, ehemals Trainer beim Wolfsberger AC und der Wiener Austria, nunmehr Chefcoach bei Kroatiens wichtigstem, die nationale Meisterschaft nach Belieben beherrschendem Verein: Dinamo Zagreb.

Allein, es ist ein Hunger, der aus relativer Armut entsteht. Nimmt man die Neubauten in Rijeka und Pula aus, so sind die Fußballarenen in Kroatien abbruchreife Kästen, und selbst das unüberdachte Nationalstadion Maksimir in Zagreb finden bestenfalls Tito-Nostalgiker anziehend. Im alltäglichen Ligabetrieb verirren sich kaum mehr als 1.000 Besucher pro Match auf die desolaten Tribünen, und richtig fett verdienen lässt sich mit dem Ball am Balkan auch nicht. "50.000 Euro pro Jahr, mehr ist für einen Profi nur in den seltensten Fällen drinnen", sagt Mario Tokić, früher Spieler in Österreich und kroatischer Teamkicker, heute Trainer bei Kroatiens kleinerem Hauptstadtklub, Lokomotiva Zagreb.

Geldquelle Kicker-Export

Im Vergleich zum kroatischen Durchschnittseinkommen von etwa 11.000 Euro pro Jahr ist das zwar noch immer unfassbar viel, in Relation zu den knapp sechs Millionen, die Kroatiens Superstar Luka Modrić bei Real Madrid kassiert, aber bloß ein Almosen. "Die kroatische Liga ist heute schwach und international kaum konkurrenzfähig", resümiert Trainerlegende Otto Barić, der sowohl in Kroatien als auch in Österreich als Teamchef tätig war.

Das ganz große Geld lässt sich im kroatischen Fußball derzeit nur illegal verdienen: Zdravko Mamić, einst allmächtiger Präsident von Dinamo Zagreb, Spitzname "der Pate", soll im Zuge von Auslandstransfers 15 Millionen Euro unterschlagen haben und wurde zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt, derzeit verschanzt er sich auf seinen Latifundien in der Herzegowina vor dem Zugriff der kroatischen Behörde.

Und Auslandstransfers, bei denen halbseidene Zwischenhändler mitschneiden, gibt es genug: An die 20 Erstligaspieler pro Jahr verlassen Kroatien -die einen, um als Gastarbeiter in durchschnittlichen Ligen immer noch mehr als daheim zu verdienen. Die anderen, um sich in Spitzenligen durchzubeißen und den in Russland brillierenden Role Models nachzueifern. Und so kamen Berechnungen der Uefa zufolge alleine in der abgelaufenen Champions- League-Saison 35 gebürtige Kroaten zum Einsatz - ein gigantischer Pool, aus dem wiederum das Nationalteam schöpft.

Jung und abgebrüht

"Da es in der kroatischen Meisterschaft kaum Geld gibt, setzen die Vereine zwangsläufig auf sehr junge Spieler", sagt Lokomotiva-Coach Tokić. Kaum sonst wo würden so viele talentierte Teenager so früh Erstligaerfahrung sammeln, anstatt hinter arrivierten Stars zu verkümmern. "Spieler mit Entwicklungspotenzial, die dennoch bereits mehrjährige Profierfahrung haben, das ist im internationalen Fußball gefragt", sagt Ivica Vastić, österreichischer Ex-Teamspieler mit dalmatinischen Wurzeln. Und genau das liefert Kroatien. Ante Ćorić, 21, etwa wechselt erst dieser Tage von Dinamo Zagreb zur AS Roma. Sein erstes Match in der Heimatliga absolvierte er, nach einem Kurzgastspiel in der Jugend von Red Bull Salzburg, mit 16 Jahren, mit 17 wurde er jüngster Torschütze in der Euro League. Als hoffnungsvoller Youngster und abgebrühter Profi in Personalunion.

Land des tiefblauen Meeres, Land der abgebrühten Matchwinner. Das ist die eine Seite, die europaweit vermarktbare. Die andere, dunklere: "Fußball ist in Kroatien seit jeher sehr eng mit Politik verbunden", sagt Tokić. Und das ist noch sehr defensiv formuliert. Fußball, das war und ist in dem kleinen Land an der Adria eine Sache von höchster vaterländischer Bedeutung. "Trägerin der nationalen Würde" nannte der verstorbene Staatsgründer Franjo Tuđman "sein" Nationalteam salbungsvoll.

Erst war der Kick, dann der Krieg. Wer dieses unheilvolle Doppelpassspiel überschauen will, muss weit zurückblicken: Mai 1990, ein Jahr vor Ausbruch des Balkan-Konfliktes und dem Zerfall Jugoslawiens. Dinamo Zagreb empfängt Roter Stern Belgrad, noch vor Anpfiff geraten die Fangruppen aneinander. Serbische Hooligans demolieren die Tribüne, kroatische Krawallmacher stürmen das Spielfeld. Die völlig überforderte Polizei prügelt blindlings auf den wütenden Mob ein, die von Belgrad dirigierte Ordnungsmacht schlägt aufmüpfige Kroaten -das ist, zumindest aus kroatischer Sicht, die unauslöschliche Symbolik. "Lijepa naša domovino", unsere schöne Heimat, mit Füßen getreten.

Fußballer als Kriegsheld

Doch dann kommt der frisch aufgewärmte Dinamo-Kicker Zvonimir Boban, sieht einen Uniformierten, der auf einen Kroaten einprügelt, und streckt den Polizisten per Karatekick nieder. Brennende Feuerwehrautos, zerrissene Jugoslawien-Fahnen, nationalistische Lieder, und das alles live im Fernsehen. Das Spiel selbst wird nie angepfiffen. Dafür beginnt das brutale Match zwischen Kroatiens Franjo Tuđman und Serbiens Slobodan Milošević. "Es war damals der Aufstand von allen", blickt Boban, heute hochrangiger Fifa-Funktionär, verklärt zurück. "Aber ich war Boban, die Zehn von Dinamo. Das war der Unterschied."

Spielmacher Boban, der erste Held der Unabhängigkeit, der Sohn eines Majors, wechselt zu Kriegsbeginn zum AC Milan, spendet einen Teil seiner Ablöse für die Bewaffnung der kroatischen Armee und avanciert wie auch andere exjugoslawische Teamspieler und begeisterte Neo-Kroaten zum Liebkind von Kriegstreiber Tuđman. Die Hardcore-Fans von Dinamo, sie gehören zu den Ersten, die sich freiwillig fürs Militär melden. "Kroatische Sportzeitungen zeigten, wie junge Männer an der Front die Dinamo-Fahne hissten und sich das Klubabzeichen als Glücksbringer auf die Helme und Uniformen klebten", sagt die Historikerin Nadine Freiermuth-Samardžić, eine Expertin für den Zusammenhang zwischen Politik und Kick.

Altar der Heimat

Noch heute wird der Fußballfans, die in den Kampf zogen, in Form eines Denkmals hinter dem Nationalstadion gedacht. "Gewidmet all jenen, für die der Krieg im Stadion begonnen hat und mit der Hingabe ihres Lebens am Altar der Heimat Kroatien endete", steht dort. Und auch die Stars von heute sind Kinder des Krieges: Luka Modrić sah, wie sein Großvater von serbischen Paramilitärs erschossen wurde, Dejan Lovren produzierte über die Flucht seiner Familie sogar einen Dokumentarfilm -Fußballer als Träger eines nationalen Traumas.

All das schwingt mit, wenn kroatische Nationalspieler ihre Hymne anstimmen. "Lijepa naša domovino", unsere schöne Heimat. "Blaues Meer, sag der Welt, dass der Kroate sein Volk liebt, solange das Grab seine Toten bedeckt."

Der Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (28/2018) erschienen.